EU-Solidarität per Mehrheitsbeschluss

Jean Asselborn, Thomas de Maziere und Johanna Mikl-Leitner
Jean Asselborn, Thomas de Maziere und Johanna Mikl-Leitner APA/EPA/OLIVIER HOSLET
  • Drucken

Die Mehrheit der Ressortchefs erzwingt in Brüssel die Aufteilung von 120.000 Flüchtlingen auf die gesamte Europäische Union. Tschechien, die Slowakei, Rumänien und Ungarn wurden überstimmt.

Brüssel. Es ist ein Vorschlag, der „eigentlich jeden beglücken müsste“ – so sieht es jedenfalls Jean Asselborn, der Außen-, Immigrations- und Asylminister von Luxemburg, der als derzeitiger EU-Ratsvorsitzender die Aufgabe hatte, die Quadratur des Kreises zu ermöglichen. Das angesprochene Glück sollen vor allem jene insgesamt 120.000 Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Eritrea haben, die aus Italien und Griechenland auf den Rest der Union verteilt werden sollen, zum anderen aber die beiden südeuropäischen EU-Mitglieder, die mit einer kaum bewältigbaren Anzahl hilfsbedürftiger Menschen aus Kriegs- und Krisenzonen konfrontiert sind.

Dass des einen Glück des anderen Leid ist, zeigte sich bei dem gestrigen Sondertreffen der Innenminister. Denn die Entscheidung über die Verteilung der Flüchtlinge fiel nicht einstimmig, sondern per Mehrheitsbeschluss. Vier osteuropäische EU-Mitglieder – Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Rumänien – stimmten gegen die Maßnahme; Finnland enthielt sich der Stimme. Dabei hätte Ungarn gemäß des ursprünglichen Vorschlags, den die EU-Kommission am 9. September präsentiert hatte, von der Verteilungsaktion profitiert, denn von den eingangs erwähnten 120.000 Personen hätten 54.000 aus Ungarn kommen sollen. Doch die Regierung in Budapest lehnt Quoten jedweder Art aus Prinzip ab und weigerte sich folglich, von dem „Solidaritätsmechanismus“ zu profitieren. So wurde die ungarische Quote nun auf Griechenland, Italien und „weitere Mitgliedstaaten, die von der Krise direkt betroffen sind“, verteilt. Insgesamt sollen heuer 66.000 Flüchtlinge anderswo untergebracht werden, die restlichen 54.000 im kommenden Jahr.

Lange Zeit hatten sich die Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropas mit Zähnen und Klauen gegen die Unterbringung von Flüchtlingen gewehrt, doch zum Zeitpunkt des gestrigen Votums war die Front der Osteuropäer gegen den Rest der Union nicht mehr geschlossen. Bereits zu Wochenbeginn ließ der polnische Außenminister, Grzegorz Schetyna, wissen, dass sein Land bereit sei, mehr Flüchtlinge aufzunehmen als ursprünglich von der Kommission vorgesehen – die Quote für Polen wurde auf 9287 Personen festgelegt. Doch im Gegenzug forderte Schetyna seine EU-Partner auf, sich von der Idee eines in Stein gemeißelten Verteilungsschlüssels zu verabschieden und Flüchtlinge ausschließlich auf freiwilliger Basis unterzubringen.

Warschau konnte sich schlussendlich durchsetzen – die Verteilung wird nämlich nicht auf Basis des ursprünglich von der Brüsseler Behörde favorisierten Systems erfolgen, wonach sich die Quoten an Kriterien wie Bevölkerungszahl und Wirtschaftsleistung orientieren sollten. Aus der Warschauer Perspektive hat die gestrige Entscheidung also keine Präjudizwirkung für künftige Debatten über die Verteilung weiterer Neuankömmlinge – denn die Flüchtlingszahlen steigen rasant (siehe unten). Allein aus Syrien sind seit dem Beginn des Bürgerkriegs vier Millionen Menschen geflüchtet.

Wunden schlagen, Wunden heilen

Im Vorfeld des Innenministertreffens ging in Brüssel die Angst um, dass die Kampfabstimmung bei einer derart heiklen, die nationale Souveränität berührenden Materie das Gesprächsklima in der Union nachhaltig vergiften könnte – daher beharrte die Kommission dem Vernehmen nach zuletzt nicht mehr auf einem permanenten Quotensystem. Diese Sorge teilt auch Angela Merkel: Sie werde mit ihren EU-Partnern eine Konsenslösung suchen, versprach die deutsche Bundeskanzlerin gestern in Berlin – beim heutigen EU-Sondergipfel zur Flüchtlingsfrage wird Merkel die Gelegenheit haben, die gestern geschlagenen Wunden zu heilen. Ob dies gelingt, ist angesichts der Brisanz des gestrigen Votums alles andere als sicher. Zu Deutschlands östlichem Nachbarn dürfte die Beziehung jedenfalls weniger stark gelitten haben als zu Prag, Bratislava und Budapest. Insofern dürfte der heutige Gipfel auch einen therapeutischen Charakter haben. Die Staats- und Regierungschefs werden in Brüssel über Maßnahmen in der europäischen Nachbarschaft debattieren – in der Hoffnung, dass sich künftig nicht mehr so viele Flüchtlinge aus der Türkei, dem Irak oder Jordanien auf den Weg nach Europa machen. Eines stimmt jedenfalls zuversichtlich. Anders als das Gremium der Minister trifft der Europäische Rat seine Entscheidungen nur einstimmig.

Auf einen Blick

Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, 160.000 Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea und dem Irak auf die gesamte Union aufzuteilen. Über die Aufteilung von 40.000 schutzbedürftigen Personen haben sich die EU-Minister bereits vergangene Woche verständigt. Der ursprüngliche Plan der Brüsseler Behörde sieht einen Verteilungsschlüssel vor – die zugewiesene Flüchtlingsquote sollte sich nach Bevölkerung, Wirtschaftsleistung, Arbeitslosigkeit und Zahl der laufenden Asylanträge richten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

FL�CHTLINGE: ERSTE ASYLWERBER AUS �STERREICH NACH GABCIKOVO GEBRACHT
Europa

Rekord bei Asylwerbern

Die OECD erwartet in diesem Jahr bis zu einer Million Asylwerber in Europa. Integration wird als Schlüssel gesehen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.