Rechtssetzung. Die EU-Kommission produziert für den Binnenmarkt immer neue Gesetze. Und die Mitgliedstaaten doppeln sie dann oft noch auf.
Wien. Die Aufregung in Österreich war groß, als die neue Allergenkennzeichnung im Dezember 2014 eingeführt wurde. Die Gastronomie protestierte, EU-Kritiker und Kammervertreter verurteilten die Überregulierung durch Brüssel. Wenige Monate später ebbte die Kritik ab. Die Konsumenten gewöhnten sich langsam an die Code-Buchstaben in Speisekarten, und die Gastronomie stellte sich ohne weitere Probleme auf die neuen Regeln ein.
Der Normalzustand ist wieder hergestellt, doch kaum jemand im Land hat mitbekommen, dass die Kennzeichnung von lose verkauften Lebensmitteln nicht etwa aus der zweifellos bürokratisch orientierten EU-Kommission stammte, sondern unter anderem aus dem heimischen Gesundheitsministerium. „Diese Forderung konnte durchgesetzt werden“, freute sich damals das Ministerium und tat das auf der Homepage kund.
Die Vertreter der nationalen Regierungen, die selbst gern den „Regulierungswahn“ in Brüssel kritisieren, stimmen nicht nur über alle neuen EU-Regeln ab, viele gehen auch auf ihre Initiative zurück. Oder sie stammen von nationalen Interessengruppen, die bei ihren Regierungen so lang intervenieren, bis diese in Brüssel einen Vorstoß unternehmen. Auf diese Weise kam vor Jahren auch die absurd wirkende Traktorensitzverordnung zustande, die EU-Gegner gern als plakatives Beispiel für den „bürokratischen Wahnsinn in Brüssel“ heranziehen. Sie wurde von deutschen Bauernverbänden gewünscht. Diese forderten eine EU-weite Regelung, weil ein bayerischer Landwirt nach einem Unfall mit seinem Traktor keine Entschädigung erhielt. Die Versicherung hatte nämlich den Traktorensitz als Ursache genannt, der aus einem anderen Mitgliedsland stammte und nicht den nationalen Sicherheitsanforderungen entsprach. Die Folge war eine EU-weite Regelung für solche Sitze. 2012 wurde sie wieder abgeschafft.
EU-Regeln sind nicht selten Folge einer fast unaufhaltsamen Dynamik. Sie werden geschaffen, um die Rechtssicherheit für Konsumenten und Unternehmen zu verbessern, Grauzonen zu beseitigen und den riesigen Binnenmarkt mit über 500 Millionen Verbrauchern zu organisieren. Mit der Lebensmittelinformationsverordnung wollte die EU-Kommission nicht etwa die Gastronomie in den Wahnsinn treiben, sondern eigentlich nur Konsumenten ein zusätzliches Service bieten.
90.000 Seiten an Gesetzen
Der Umfang an EU-Gesetzen wird ständig größer. Bevor Österreich der EU 1995 beitrat, musste es laut dem Innsbrucker Europarechtler Walter Obwexer 60.000 Seiten an Rechtsakten aus dem Amtsblatt der Union übernehmen. Inzwischen ist das Volumen auf 90.000 Seiten angewachsen. „Die größten Zuwächse gab es im Bereich Binnenmarkt und Landwirtschaft. Zuletzt holt aber auch der neue Bereich Freiheit, Sicherheit und Recht gewaltig auf“, so Obwexer. Jedes Jahr entstehen hunderte neue Verordnungen und Dutzende neue Richtlinien. Die Verordnungen müssen direkt umgesetzt, die Richtlinien von den Mitgliedstaaten in eigene nationale Gesetze gegossen werden. Allein im Jahr 2014 entstanden 969 neue Verordnungen. Darüber hinaus wurden von den EU-Regierungen und dem EU-Parlament 53 neue Richtlinien beschlossen. In den Jahren davor waren es noch deutlich mehr. 2004 wurden 1813 Verordnungen, 1999 sogar 2439 beschlossen.
Obwohl sich die Führung der Kommission mittlerweile bewusst ist, dass zu viele neue Rechtsakte dem Image der Gemeinschaft schaden, ist die Flut kaum zu stoppen. Denn mit jedem Beschluss der Mitgliedstaaten, in wichtigen politischen Bereichen enger zusammenzuarbeiten, wächst auch der Bedarf an gemeinsamen Regeln. Als die EU-Regierungen etwa eine Kooperation im Bankwesen (Bankenunion) beschlossen, mussten umgehend Rechtsnormen für die Kontrolle und Abwicklung von Geldinstituten geschaffen werden.
Der Umfang wird auch größer, weil im juristischen Archiv der Europäischen Union nur selten aufgeräumt wird. Obwexer: „Es sind nur relativ wenige Regelungen, die gestrichen werden. Das ist verschwindend gering im Verhältnis zu dem, was Jahr für Jahr an neuen Rechtsnormen hinzukommt.“
Zur Regulierungsflut tragen die Mitgliedstaaten zudem bei, indem sie neue EU-Regeln durch ihre eigene Gesetzgebung vermehren. EU-Abgeordneter Othmar Karas behauptete in einem Bericht über eine effizientere Gesetzgebung für das Europaparlament, „dass bis zu einem Drittel des mit dem EU-Recht verbundenen Verwaltungsaufwands von den einzelstaatlichen Umsetzungsmaßnahmen herrührt“. Viele Mitgliedstaaten würden die EU-Gesetze durch Zusatzregeln aufdoppeln.
EU-Recht dominiert
Die Dominanz des EU-Rechts ist kein Vorurteil, sondern lässt sich belegen. Der deutsche Jurist Tilman Hoppe ist in einem Aufsatz für die „Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht“ (EuZW) der Behauptung nachgegangen, dass 80 Prozent der Gesetzgebung mittlerweile von Brüssel beeinflusst wird. Hoppe operierte zwar mit deutschen Zahlen, doch ist sein Ergebnis mit der Rechtslage in anderen Mitgliedstaaten vergleichbar. In seine Berechnung flossen auch die EU-Verträge und ihr Einfluss auf die nationale Rechtssetzung ein. Hoppe kam zum Schluss, dass „es sich bei der Zahl von 80 Prozent tatsächlich um eine realistische Größe handelt, und zwar nicht nur auf das Wirtschaftsrecht bezogen“.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte vor seinem Antritt angekündigt, gegen die Überregulierung vorzugehen: „Die EU soll sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren und sich nicht im Klein-Klein verlieren.“ Doch mittlerweile droht sein eigener Ehrgeiz das Vorhaben zu konterkarieren. Einer von Junckers Plänen ist die Energieunion. Sie wird viele neue Regeln zur Folge haben – vom grenzüberschreitenden Stromhandel bis zur verpflichtenden Nutzung von Smart-Metern. Und Juncker hat noch viele Ideen.