Am Schluss verärgerte die Fußgängerzonen-Debatte eigentliche Nutznießer: Anrainer. Doch darum geht es bei der Wahl gar nicht, sondern um den Kampf verschiedener Stadtlebensgefühle und -erwartungen.
Wien. Der Schriftsteller Robert Menasse lobte Mariahilf einst als am meisten lebenswerten Bezirk der Stadt. Wenig später zog er dann in die Leopoldstadt. Zum Karmelitermarkt. Der ist noch immer authentischer als der überrannte, nieder-sanierte Naschmarkt. Und vielleicht hat der Mann auch recht, Mariahilf war lebenswert, ist es auch noch, aber ein bisschen lauter und austauschbarer ist es geworden.
Deswegen kämpfen so viele um den Grätzelcharakter in den zwischen Mariahilfer Straße, Wienzeile, Gürtel und 2er-Linie eingezwängten Bezirk. Viele Kleinunternehmer öffnen originelle Geschäfte, Lokale und witzige Imbissläden. Dennoch ist es drüben, im grün geführten Wien Neubau, mitunter liebenswerter. Dort fährt der 13A-Bus exakt so, wie das die Anrainer wollten. Die Mariahilfer Grünen – auf Platz zwei im Bezirk – rechnen sich unter Partei-Doyenne Susanne Jerusalem Chancen aus und sind mit dem grellgrünen Lifestyle-Wahlkampf sehr präsent.
Dabei könnten sie einem Irrtum aufsitzen: Der Bezirksvorsteher drüben, der Grüne Thomas Blimlinger, ist aufgrund seines Pragmatismus und seines Bezirksegoismus so erfolgreich – weniger wegen Ampelpärchen und Zahnlücke. Andererseits ist der politische Lifestyle vielen wichtig. Die Stimme bei der Wahl muss zur Zufriedenheit über Familienglück, Fahrradweg und Vegan-Cupcakes passen.
Aus Platz eins in Mariahilf kämpft der junge Sozialdemokrat Markus Rumelhart um den Job, den er von seiner Vorgängerin Martina Kaufmann geerbt hat. Diese hatte in dem Bezirk, in dem einst rote Gründungsväter lebten, arbeiteten und später kämpften, ideologische Lokalpolitik vollzogen – als politisch exaktes Gegenteil Ursula Stenzels. Kaufmanns Credo lautete: Die Wurzel des Übels der Welt muss im Bezirk beseitigt werden. (Stenzels lautet: Die Auswirkungen des Übels der Welt müssen im Bezirk beseitigt werden.) In der Ära Kaufmann waren mehr soziale Einrichtungen aufgenommen und gegründet worden als in anderen vergleichbar kleinen Bezirken.
Rumelhart tritt in große Fußstapfen, ist allseits beliebt, wirkt so fröhlich und freundlich, als wäre er aus dem Grünen-Wahlplakat gesprungen. Und er hat Unterstützung im Rathaus. Ausgerechnet auf dem Areal des früher mitunter liberal forschenden Instituts für Höhere Forschungen in der Stumpergasse soll ein Gemeindebau entstehen. Otto Bauer, nach dem die nahe Kasernengasse vor Jahrzehnten umbenannt wurde, wäre stolz. Also ein sicherer roter Wahlsieg? Nein. Der Frust, dass Parkplätze rarer, das Einbahnsystem absurder sowie das Ergebnis von Anrainerbefragungen ignoriert wurde, könnte die SPÖ treffen. Auch wenn der Bezirksvorsteher beteuert, dass das großteils Entscheidungen des grünen Stadtratbüros waren.
Die ÖVP, die einst den Bezirk beherrschte, hat seit Langem erstmals mit Bernadett Thaler eine Frontfrau, die reden kann. Die Neos mühen sich lustig und redlich. Die FPÖ versucht, wie immer, Proteststimmen abzuholen. Ein echtes Konzept für den Bezirk fehlt ihnen.
Die Grünen haben eines, es lautet: mehr oder weniger freundliche Umerziehung. Christoph Chorherr, Bewohner und echter Radfahrer, meinte einmal in einem kurzen Wortwechsel mit unzähligen Parkplatzrunden konfrontiert: Man könne ja auch aufs Land ziehen. Manchmal befällt einen der Verdacht, dass der urbane sechste Bezirk gerade zum Land mutiert.

Serie: Wiens Bezirke
Bis zur Wien-Wahl am 11. Oktober porträtiert die ''Presse'' nach und nach alle 23 Wiener Bezirke. Die bisherigen Porträts finden sie unter diepresse.com/bezirke
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2015)