Hadsch-Katastrophe in Mekka verstärkt Nervosität in der Königsfamilie auch vor einem Debakel im Jemen und Irak. Der Unmut richtet sich gegen den König und seine Kronprinzen.
Kairo. Auf Twitter lässt so mancher Mekka-Pilger jetzt seine fromme Zurückhaltung fahren. „Das ist die am schlechtesten organisierte Hadsch, die ich je erlebt habe“, schimpfte einer, der zum vierten Mal dabei war. Andere beklagen sich über den rüden Umgangston der saudischen Polizisten. Die meisten stünden in Gruppen faul und untätig herum, scherten sich nicht um die Pilger und könnten keinerlei Fremdsprachen. Andere kritisieren, das Treiben in der Geburtsstadt des Propheten Mohammed verkomme immer mehr zu einem unwürdigen Kommerz-Spektakel.
Nach der schwersten Hadsch-Tragödie seit 25 Jahren, bei der mindestens 717 Menschen getötet und über 860 verletzt wurden, bricht sich im Internet erstmals offene Kritik an den Zuständen bei der islamischen Megawallfahrt Bahn. Kopflos reagierten dagegen die saudischen Verantwortlichen. Gesundheitsminister Khaled al-Falih beschuldigte die Pilger, durch ihre Disziplinlosigkeit die Katastrophe selbst verursacht zu haben. König Salman, der den Ehrentitel „Hüter der beiden heiligen Moscheen“ trägt, versprach eine umfassende und transparente Untersuchung.
Keine Rücktrittskultur
Doch Selbstkritik, öffentliche Verantwortung oder gar freiwillige Rücktritte bei Fehlern gehörten noch nie zur politischen Kultur des ölreichen Königreiches. Als vor einigen Jahren während einer Regenflut in Dschidda 120 Menschen ertranken, brauchten die Zuständigen eineinhalb Jahre für ihren Katastrophenbericht. Wer die Mittel für das nie gebaute städtische Kanalsystem veruntreut hat, wurde auch dann nicht geklärt. Und so könnte es diesmal wieder sein, dass die Angehörigen niemals erfahren werden, wer für den Tod ihrer Familienmitglieder letztlich die Verantwortung trägt.
Für viele der 29 Millionen saudischen Untertanen aber ist das Mekka-Drama ein weiterer Indikator dafür, dass ihre Heimat in den Abwärtsstrudel der arabischen Region hineinrutschen könnte. Der Krieg im Jemen erweist sich als blutiges und kostspieliges Abenteuer. Sechs Monate nach Beginn der tausendfachen Luftangriffe haben die gegnerischen Houthis den Großteil des Landes nach wie vor unter Kontrolle.
Die in der Provinz Marib zusammengezogene panarabische Streitmacht zögert mit ihrem Angriff auf Sanaa, weil die Koordination mit der saudischen Luftwaffe überhaupt nicht funktioniert. Zweimal bereits wurden eigene Einheiten aus Versehen bombardiert. „Wenn der Aufmarsch weiter so desorganisiert bleibt, wird es wohl keinen Sieg geben“, ließ sich einer der Offiziere zitieren.
In Syrien droht der saudischen Diplomatie ebenfalls ein herber Rückschlag, nachdem jetzt Riads bisheriger Hauptverbündeter, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, den Sturz von Bashar al-Assad als primäres Kriegsziel öffentlich aufgegeben hat. Auch im Luftkrieg gegen die Milizen des sogenannten Islamischen Staats im Irak gibt es außer frisierten Erfolgsstatistiken des Pentagons keine wirklichen Erfolge zu vermelden.
Weltrekord-Defizit
Gleichzeitig reißt der rapide verfallende Ölpreis dreistellige Milliardenlöcher in die Staatskasse. Nach Schätzungen saudischer Banken wird der Haushalt im laufenden Jahr ein Weltrekorddefizit von 150Milliarden Dollar ausweisen – selbst für eine superreiche Nation mit Rücklagen von 600 Milliarden Dollar eine ausgesprochen alarmierende Entwicklung.
Und so wundert es nicht, dass sich auch in der Königsfamilie Nervosität breitmacht. Seit Kurzem zirkuliert ein offener Brief, der mit drastischen Worten ein Krisentreffen des gesamten Al-Saud-Clans fordert. Der anonyme Autor ist nach Informationen der Website Middle East Eye einer der Enkel des Staatsgründers Abdulaziz. „Wir geraten immer näher an einen Zusammenbruch des Staats und einen Verlust unserer Macht“, heißt es in dem vierseitigen Text, der mit dem Appell schließt, den „unfähigen König Salman“, „den aufgeblasenen Kronprinz Mohammed bin Nayef“ und „den verrotteten Dieb, Vizekronprinz Mohammed bin Salman“, kaltzustellen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2015)