Vereinte Nationen: „Geld allein wird die Probleme nicht lösen“

150915 GENEVA Sept 15 2015 Melissa Fleming spokesperson of the United Nations High Commi
150915 GENEVA Sept 15 2015 Melissa Fleming spokesperson of the United Nations High Commi(c) imago/Xinhua (imago stock&people)
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Die Sprecherin des UNHCR, Melissa Fleming, forderte in New York Zukunftsperspektiven für Flüchtlinge. Außenminister Kurz gab inzwischen die Hoffnung auf Schutzzonen in Syrien auf.

New York. Die Hoffnung, die der Flüchtlingsstrom nach Europa ausgelöst hat, lässt sich anderorts genau in Zahlen ablesen. Melissa Fleming, Sprecherin des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR, nennt nur ein Beispiel: den Irak. Viele Syrer, die sich in den Norden des instabilen Nachbarlands geflüchtet hatten, haben sich nun aufgemacht in Richtung Europa. Allein im August, sagt Fleming, sei die Anzahl der Flüchtlinge aus der Kurdenregion im Nordirak um 66 Prozent in die Höhe gegangen. Die Flüge, die aus den Städten Bagdad und Najaf in Richtung Türkei abheben, sind sechs Wochen im Voraus ausgebucht. Und wurden noch Anfang des Jahres zwei- bis dreitausend irakische Pässe pro Tag beantragt, sei die Zahl nun auf 13.000 geschnellt.

Dabei hat das UNHCR die Entwicklung vorausgesehen, immer wieder davor gewarnt. „Wir haben seit Jahren das Gleiche gesagt wie jetzt“, erklärt Fleming am Rande der UN-Generalversammlung in New York: Jährlich sei die Zahl der aus Syrien geflüchteten Menschen um eine Million in die Höhe gegangen. Die humanitäre Krise in den Nachbarländern Syriens war absehbar. „Wir haben noch nie soviel Aufmerksamkeit erhalten wie heute. Dabei hat sich nichts wirklich geändert, nur ein Punkt: eine große Anzahl von Flüchtlingen in Europa.“ Jetzt steht das Thema auf einmal ganz oben auf der Tagesordnung. Heute, Mittwoch, hat UN-Generalsekretär Ban Ki-moon in New York sogar einen Krisengipfel einberufen.

„Hotspots“ wären leicht einzurichten

Inzwischen überbieten sich die europäischen Regierungen mit den Forderungen nach mehr humanitärer Hilfe für die Flüchtlinge in der Region. Auch Österreichs Außenminister, Sebastian Kurz, drängte in einem Gespräch mit Journalisten wieder darauf, dass man den Flüchtlingen im Libanon, in Jordanien und in der Türkei eine Versorgung und eine Perspektive bieten müsse. Das Außenamt argumentiert das auch unter finanziellen Gesichtspunkten: Während man in Österreich für die Grundsicherung von 80.000 Menschen mehr als 400 Millionen Euro ausgebe, könne man für denselben Betrag fast 20-mal so vielen Menschen in der Türkei helfen.

Wenigstens das ist inzwischen Konsens: Nach viereinhalb Jahren Krieg haben die Menschen den Glauben verloren, bald in ihr Heimatland zurückkehren zu können, und brauchen eine Zukunftsperspektive. Deshalb sagt Fleming auch: „Geld allein wird diese Probleme nicht lösen.“ Die größte Schwierigkeit sei, dass die Menschen nicht arbeiten dürften. Viele haben ihre Ersparnisse aufgebraucht und sich verschuldet, um überleben zu können. „Das Resultat ist, dass die Kinder arbeiten.“ Eine Zukunft haben sie so nicht.

Kurz setzt auch auf das UNHCR, um die Flüchtlingskrise vor Ort in den Griff zu bekommen. Im Gespräch mit Journalisten forderte er außerdem einen „Systemwechsel“ in der Union. Notwendig sei ein „europäisches System“, um es Asylsuchenden zu ermöglichen, auch außerhalb der EU einen Asylantrag zu stellen. „Es ist ein Riesenthema, dass viele Asylwerber bleiben, auch wenn sie einen negativen Bescheid erhalten haben.“ Gleichzeitig forderte er mehr Grenzsicherheit an den EU-Außengrenzen. Die geplanten Registrierungszentren in Italien und Griechenland werden auch vom UNHCR unterstützt. Fleming sagt, auch das habe die UN-Organisation „schon vor Monaten“ für Griechenland vorgeschlagen. Bei entsprechendem politischen Willen seien diese „Hotspots“ auch nicht schwierig umzusetzen. Wenn das nicht gelingt, sagt Fleming auch, „wird es so weitergehen“.

Schutzzonen „nicht praktikabel“

Anders als noch vor knapp zehn Tagen bei seinem Besuch in der Türkei ist der österreichische Außenminister davon abgerückt, Schutzzonen für die Zivilbevölkerung in Syrien selbst zu fordern. Das sei von vielen Gesprächspartnern als nicht praktikabel eingeschätzt worden, sagte er. Grund dafür ist unter anderem, dass dazu ein militärisches Engagement zur Sicherung dieser Zonen notwendig wäre, zu dem derzeit kaum ein Staat bereit ist. Vor allem auch nicht US-Präsident Barack Obama.

Die Chancen auf eine politische Lösung der Krise sind trotz großer diplomatischer Bemühungen nicht gestiegen. Das Treffen zwischen Obama und Russlands Staatschef, Wladimir Putin, – das erste seit über zwei Jahren – ergab keine Annäherung. Die Gräben sind so tief, dass Putin danach allein vor die Presse trat. Das Weiße Haus ließ über einen Sprecher nur erklären, die Unterredung sei produktiv gewesen. Auch in Sachen Terrorbekämpfung fahren Moskau und Washington ein Parallelprogramm: Während Obama am Dienstag zu einem Anti-IS-Gipfel lud, hat Moskau am Mittwoch unter russischem Vorsitz eine Sicherheitsratsitzung zum Kampf gegen den Terrorismus angesetzt.

Vor Journalisten kündigte Putin dann an, seine Unterstützung für das Regime von Machthaber Bashar al-Assad weiter auszuweiten. Moskau denke darüber nach, „wie wir der syrischen Armee im Kampf gegen Terroristen zusätzlich helfen können“. Das könnte offenbar auch russische Luftangriffe auf IS-Stellungen beinhalten. Beim UNHCR schellen da schon wieder die Alarmglocken. Das verändert den Konflikt. Und „jede Veränderung“, sagt Fleming, „kann eine neue Flüchtlingswelle auslösen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.09.2015)

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