Der 20. Bezirk wird als neuer Trendbezirk gehandelt, doch das betrifft nur einen kleinen Teil um den Augarten. In den anderen Grätzeln wird noch auf den Aufschwung gewartet.
Wien. Die Brigittenau hat eine gespaltene Persönlichkeit. Einerseits ist sie der Leopoldstadt wie eine Schwester. In der inneren Brigittenau rund um Augarten und Wallensteinplatz finden sich etliche Gründerzeithäuser, die genau wie im zweiten Bezirk in den vergangenen Jahren renoviert, mit Dachgeschoßausbauten gekrönt und nun von gut situierten Jungfamilien mit Kindern bezogen wurden.
Im Grätzel gibt es auch Ansätze einer trendigen Lokalszene: Auf der einen Seite des Augartens, Am Tabor, besuchen Kunst- und Kulinarikinteressierte das Nordpol, wo es böhmische Küche und eine riesige Auswahl an Limonaden gibt. Auf der anderen Seite des Gartens befindet sich der Wallensteinplatz mit dem gemütlichen, aber verrauchten Minilokal Frame. Im Undergroundclub Shelter wurde schon die eine oder andere Nachwuchsband geboren, und das Vindobona hat sich einen Namen als Frühstücksdorado gemacht. Diejenigen, die nachts unterwegs sind und es nicht bis zum Frühstück aushalten, treffen sich im legendären Café Prindl am Gaußplatz, das 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche geöffnet hat.
Migranten und Urwiener
Wenige Meter vom Wallensteinplatz entfernt in der Dammstraße hat gerade ein junges Paar das urige Gasthaus Artner übernommen, wo jetzt alles bio und selbstgemacht ist – hier treffen Bobos auf Alteingesessene und diskutieren über Politik auf Akademiker- und Stammtischniveau. Und ums Eck am Sachsenplatz ist das Edelrestaurant Mraz und Sohn, wo sogar schon Madonna essen war.
Hier im einst jüdisch dominierten Viertel wird es hipper. Es hat alle Voraussetzungen, die einst Ottakring zum Trendbezirk machten: migrantische Strukturen – vom Hannovermarkt über Balkan-Grillrestaurants rund um den Brigittaplatz bis hin zum türkischen Frisör – gemischt mit Urwiener Institutionen wie dem Fleischhauer Erwin Fellner in der Klosterneuburgerstraße, bei dem es riecht wie auf dem Land und der alle seine Kunden beim Namen kennt, oder dem traditionellen Wirtshaus Lehner in der Pappenheimgasse. Im Viertel gibt es noch Bäcker, die zu keiner Kette gehören, und Handwerksbetriebe, die seit Generationen im Familienbesitz sind.
Wer in der inneren Brigittenau wohnt, lebt wie in einem Innenstadtbezirk – nur dass die Mieten deutlich günstiger sind. Bis 1900 war die Brigittenau Teil der Leopoldstadt. Die hohe Bezirksnummer resultiert aus der späten Teilung – aber trotzdem ist man in zehn Minuten mit dem Rad am Schwedenplatz. Mit den U-Bahnstationen U4 Friedensbrücke, U1 Praterstern und U6 Jägerstraße sowie etlichen Bus- und Straßenbahnlinien ist der Bezirk gut angebunden – zumindest bis dorthin, wo die Nordwestbahn die Brigittenau in zwei Welten teilt.
Dort drüben, von der Dresdnerstraße bis zum Handelskai, zeigt die Brigittenau ein anderes Gesicht. Nur noch wenige Gründerzeithäuser zieren die Straßen, riesige Gemeindebauten aus den 20er-Jahren stehen hier als mächtige Zeitzeugen der vielen Industriebetriebe, die einst an der Donau standen. Diese Bauten gelten als ehemalige Hochburgen von Metallergewerkschaft und Schutzbund. Von einem aufkeimenden Trendviertel kann nicht die Rede sein – dafür findet man hier noch etliche Altwiener Spelunken mit dazugehöriger Klientel, die in vielen anderen Bezirken weggentrifiziert wurde. Highlights gibt es nur vereinzelt – wie das Wirtshaus Kopp in der Donaueschingenstraße, das für seine langen Öffnungszeiten bekannt ist, oder das Nussgartl in der Vorgartenstraße.
Bis 2025 soll auf dem angrenzenden Nordwestbahnhof-Gelände ein neuer Stadtteil entstehen, der die äußere und die innere Brigittenau miteinander versöhnen soll. Ob das funktioniert, ist fraglich – vor allem, wenn man sich den dritten Teil des Bezirks ab der Adalbert-Stifter-Straße ansieht, dem wohl jüngsten Teil der Brigittenau. Er ist von genossenschaftlichem Neubau geprägt und ein reines Wohnviertel. Es gibt kaum Lokale, kaum Infrastruktur, kaum Leben auf der Straße – dafür die Donau in Gehweite. Wer Entertainment möchte, hat in Reichweite eigentlich nur die Millennium-City mit ihrem seelenlosen Food-Court und den charmelosen Bars – dafür aber dem größten Kino Österreichs – zur Verfügung.
Das Zwischenstromland
Auch das ist die Brigittenau. Sie hat mit Sicherheit ihre Reize. Der Aufschwung, der dem Bezirk nachgesagt wird, ist aber nur in wenigen Straßenzügen spürbar. Der Weg zum Trendbezirk ist für die Brigittenau, die mit der Leopoldstadt gemeinsam eine Insel zwischen Donaukanal und Donau bildet und darum auch liebevoll Mesopotamien – Zwischenstromland – genannt wird, noch ein weiter.

Serie: Wiens Bezirke
Bis zur Wien-Wahl am 11. Oktober porträtiert die ''Presse'' nach und nach alle 23 Wiener Bezirke. Die bisherigen Porträts finden sie unter diepresse.com/bezirke
("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2015)