EU-Kommissar Dombrovskis erwartet vom wiedergewählten griechischen Premier Alexis Tsipras die Einhaltung aller Zusagen an die Gläubiger
Die Presse: Österreich sieht sich innerhalb der EU gern in der Rolle eines Musterschülers. Hält dieses Selbstbild der Wirklichkeit stand?
Valdis Dombrovskis: Zunächst einmal stimmt es, dass Österreich gut durch die Krise gekommen ist. Für 2016 prognostizieren wir ein BIP-Plus von rund eineinhalb Prozent. Es gibt aber Handlungsbedarf – etwa an der Budgetfront, wo unsere Empfehlung lautet, 2016 nicht über die Stränge zu schlagen.
Haben Sie den Eindruck, in Österreich ernst genommen zu werden, oder geht es Ihnen wie in Frankreich, wo Rufe nach Budgetkonsolidierung gemeinhin ohne Folgen verhallen.
Der Vergleich ist nicht angebracht. Für Frankreich läuft ein EU-Defizitverfahren, für Österreich nicht. Dass es im Zusammenhang mit dem österreichischen Budget 2016 Diskussionen geben wird, steht außer Frage.
Ich habe Frankreich erwähnt, weil es dort starke Spannungen zwischen Innenpolitik und Europa gibt. Noch im Vorjahr hatte Premier Manuel Valls EU-Vorgaben mit dem Hinweis abgeschmettert, Frankreich sei ein großes Land.
Die Kommission hat darauf zu achten, dass sich alle an die Spielregeln halten. Innerhalb der Regeln gibt es aber durchaus Spielraum.
Heißt das, dass die Regeln allen Mitgliedern der Eurozone soviel Bewegungsspielraum einräumen wie Frankreich?
Unsere Regeln gelten für alle Mitgliedstaaten. Große wie kleine.
Soeben wurde Griechenlands Premier, Alexis Tsipras, erneut im Amt bestätigt. Was erwarten Sie nun von ihm?
Dass sich die griechische Regierung an alle Vereinbarungen hält.
Vereinbarungen, deren „Ambiguitäten“ nach den Worten von Ex-Finanzminister Varoufakis ausgenutzt werden müssen.
Erstens ist Herr Varoufakis nicht mehr Mitglied des griechischen Kabinetts, und zweitens hat er während seiner Amtszeit sehr viele interessante Stellungnahmen abgegeben.
Aber das Thema Schuldenerlass wurde von Tsipras erneut aufs Tapet gebracht.
Die Eurogruppe hat diesbezüglich die Tür offen gelassen. Davor muss aber die erste Prüfung der Reformfortschritte positiv ausfallen.
Der IWF fordert radikalere Schritte zur Reduktion der griechischen Schuldenlast.
Wir sprechen derzeit darüber. Unserer Ansicht nach darf man nicht nur auf das mechanische Verhältnis Schulden zu Wirtschaftsleistung achten, sondern muss auch den tatsächlich zu leistenden Schuldendienst berücksichtigen. Und in dieser Hinsicht ist Griechenland bereits jetzt bessergestellt als beispielsweise Portugal oder Italien.
Die Kommission zählt nicht zu den Gläubigern Griechenlands. Wie würden Sie als „ehrlicher Makler“ das Problem lösen?
Ich möchte jetzt nicht ins Details gehen . . .
. . . was schade ist . . .
. . . ein nomineller Haircut kommt nicht infrage, aber es gibt sehr wohl Spielraum bei der Modalität der Rückzahlung.
Ist die Teilnahme des Fonds am Griechenland-Programm eine Conditio sine qua non? Beim IWF ist man sich nicht sicher.
Das dritte Programm hat ein Volumen von 86 Mrd. Euro, der IWF-Anteil würde 16 Mrd. Euro ausmachen. Der Vertrag über den Euro-Rettungsschirm ESM sieht die Kooperation mit dem IWF, wenn möglich, vor.
Aber es wäre theoretisch auch ohne den Währungsfonds machbar.
Letztendlich müsste die Eurogruppe entscheiden, ob sie ohne den IWF weitermacht.
Mit der Flüchtlingskrise ist die Causa Griechenland in den Hintergrund gerückt. Im Zuge der Debatte um die EU-weite Verteilung von Flüchtlingen gab es viel Kritik am Verhalten der Osteuropäer. Zu Recht?
Das Ausmaß des Problems überschreitet die Möglichkeiten einzelner Staaten. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen waren kontraproduktiv, aber am Ende setzte sich die Kompromissbereitschaft durch – und die Einsicht, dass uns die Causa lange beschäftigen wird.
Bedauern Sie die reflexartige Ablehnung von Flüchtlingen in Osteuropa?
Solidarität ist keine Einbahnstraße. Sie führt nicht nur von West nach Ost, wie beim Ukraine-Konflikt oder hinsichtlich der EU-Fonds. Jetzt ist Südeuropa darauf angewiesen.
Kritiker eines Verteilungsschlüssels argumentieren, dass er unsinnig sei, solange man keine Vorstellung davon habe, wie viele Flüchtlinge es zu verteilen gibt.
Ausschließlich über die Verteilung zu reden, wäre in der Tat zu kurz gegriffen. In der EU-Kommission arbeiten wir auch an der Stärkung der Außengrenzen, dem Umgang mit Wirtschaftsmigranten, der Hilfe für jene Flüchtlinge, die in der Region geblieben sind.
Apropos sichere Außengrenzen: Ungarn begründet genau damit seine Sperranlagen an der serbischen Grenze.
Wir werden nicht umhinkommen, uns über eine Reform des Migrations- und Asylwesens Gedanken zu machen. Das Dublin-System ist derzeit de facto aufgehoben: Die einen registrieren die Neuankömmlinge nicht, woraufhin die anderen Grenzkontrollen einführen.
Also lässt sich Ungarns Vorgangsweise mit dem Versagen von Dublin erklären.
Die EU-Kommission sieht es nicht gern, wenn Zäune gebaut werden. Außerdem liegt es in der Verantwortung Ungarns, zu gewährleisten, dass Flüchtlinge zu ihrem Recht kommen. Ob bzw. wie gut dies derzeit möglich ist, ist eine offene Frage. Es darf nicht passieren, dass Menschen mit Stacheldraht davon abgehalten werden, um Asyl anzusuchen.
ZUR PERSON
Valdis Dombrovskis (*1971) ist Vizepräsident der EU-Kommission und in der Brüsseler Behörde für den Euro zuständig. Am heutigen Donnerstag trifft der ehemalige lettische Ministerpräsident zu einem zweitägigen Besuch in Wien ein – auf der Agenda stehen unter anderem Treffen mit Finanzminister Hans Jörg Schelling, Sozialminister Rudolf Hundstorfer, Nationalratsabgeordneten und Sozialpartnern.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2015)