Die Elenden und die Edlen

Zum einen waren und sind sie uns Archetypen des Inferioren – und zugleich faszinierende, exotische Gegenbilder unseres Seins. Die Roma und ihr Museum in Brünn: 30.000 Exponate erzählen von Verklärung und Verfolgung.

Die Bratislavská gehört nicht zu den nobleren Straßen Brünns. Der Asphalt ist immer wieder aufgerissen, Straße und Gehsteig sind holprig, die Fassaden der Häuser sehen alt und müde aus: bröckelnder Putz, baufällige Eingänge, Fenster ohne Scheiben, der Schutt eines eingestürzten Hauses, der schon seit Jahren nicht weggeschafft wurde. Bratislavská Nummer 67, diese Adresse hatte mir Lucie Kořinková am Telefon genannt. „Sie finden es leicht“, meinte sie, „kommen Sie mit dem Auto? Gut, dann biegen Sie an der großen Ringstraße Kolištĕ rechts ab, fahren ein Stück über die parallel verlaufende Cejl stadtauswärts und biegen dann in die Bratislavská ein, die eine Einbahn ist.“

Tatsächlich ist das Roma-Museum, oder genauer: das Museum für die Kultur der Roma, wie es sich offiziell nennt, nicht mehr als eine knappe Viertelstunde Fußweg von der Brünner Altstadt entfernt. Und doch liegt es am hintersten Ende der Stadt. Innerhalb der Ringstraße, im Altstadtzentrum, ist die Stadt fein herausgeputzt, außerhalb, dort wo der Stadtbezirk Zádrdovice beginnt, ist von Noblesse und Reichtum nichts zu spüren. Als wir die Straße entlanggehen, fällt mir nicht nur die Tristesse der Fassaden auf, sondern auch die ungewöhnliche Lebendigkeit der Straße. Auf ebener Erde wuselt eine Schar von Kindern herum, an den Fenstern stehen zahlreiche Erwachsene, die nichts anderes tun, als auf die Straße zu schauen. Was ist das für eine Gegend? Später, im Museum, klärt uns Frau Kořinková auf: „Viele der Bewohner in dieser Gegend sind arm oder arbeitslos oder beides, viele von ihnen sind Roma.“

Wir sind gekommen, um das Roma-Museum in Brünn zu besuchen. Erst vor Kurzem habe ich von seiner Existenz erfahren, obwohl es schon seit Jahren besteht. Frau Kořinková, die uns durch das Haus führt, betont stolz, dass inzwischen auch sehr viele Besucher aus dem Ausland kommen, einige auch aus Österreich. 1991, zwei Jahre nach der samtenen Revolution, ist das Museum eingerichtet worden, zunächst getragen von einem rührigen privaten Verein. Lange Zeit war es in der Stadt mehr geduldet als wirklich gewollt und unterstützt. Erst vor drei Jahren, 2005, kam die Wende: Der Staat übernahm die Einrichtung, seither gibt es Geld und Unterstützung.

Woher, frage ich mich, kam die plötzliche Liebe? Wir erinnern uns: Kurz zuvor, am 1.Mai 2004, war Tschechien in die EU aufgenommen worden – und kämpfte mit dem Imageschaden, den manche Schlagzeilen („Rassistische Übergriffe gegen Roma“) in der europäischen Öffentlichkeit anrichteten. Wir tun ja etwas, signalisierte das Engagement in Brünn.

Die Anti-Roma-Schlagzeilen gibt es immer noch. Am Eingang des Museums ist mit diesen Presseausschnitten ein ganzer Raum tapeziert. Dahinter beginnt der historische Teil der Ausstellung. 1942, so erfahren wir, gab es im Protektorat Böhmen zwei „Zigeunerlager“, die zuerst als sogenannte „Arbeitslager“ geführt und später in Konzentrationslager umgewandelt wurden. Es waren die Vorstufen für die Vernichtung. In Léty bei Pisek wurden 1300 Gefangene festgehalten, in Hodonin waren es 1600. Von hier aus gingen die Transporte nach Auschwitz. Knapp 6500 tschechische Roma wurden deportiert, nur 583 von ihnen kehrten zurück. Insgesamt wurden in den NS-Vernichtungslagern an die 500.000 europäische „Zigeuner“ getötet. Diese Verbrechen wurden bald vergessen. In Léty steht seit den 1970er-Jahren an der Stelle des ehemaligen KZ eine Schweinefarm. Dort, wo in Hodonin ehemals das Lager war, befindet sich heute ein Erholungsheim, in der einzigen erhaltenen Baracke hat sich eine Kneipe eingemietet.

Im holzschnittartigen Antifaschismus des tschechischen kommunistischen Regimes hatte die Erinnerung an die Leidensgeschichte der Roma während des Nationalsozialismus wenig Platz. Sie hatte sich in das Opferdrama des tschechischen Volkes und der Arbeiterbewegung einzufügen. War das nicht möglich, wurde geschwiegen. Roma, „Zigeuner“, galten auch nach 1945 eher als Verursacher von Problemen denn als Opfer. In den 1950er Jahren wurden erneut „Maßnahmen“ gegen die Roma getroffen, etwa Maßnahmen zur „staatlich kontrollierten Assimilation“. 1958 sah das Gesetz „zur dauerhaften Ansiedlung nomadischer Gruppen und Individuen“ die zwangsweise Sesshaftmachung der Roma vor. 1965 wurde die „Auflösung unerwünschter Romakonzentrationen“ beschlossen.

Um 1969 brachte der Prager Frühling eine Lockerung dieser Zwangsmaßnahmen, aber schon Anfang der 1970er-Jahre wurden die neugegründeten Roma-Organisationen wieder verboten. Die Wende im November 1989 brachte den Roma-Angehörigen mit einem Schlag demokratische Rechte. Vereine, Organisationen und Vertretungen waren nun wieder zugelassen. Das Interesse an der lange tabuisierten Geschichte und Kultur der Roma nahm zu. Zugleich aber setzte auch, im Übergang zur freien Marktwirtschaft, ein rasanter Prozess der sozialen Deklassierung ein, ein aggressiver Rassismus schlug den nun wieder sichtbareren Roma-Angehörigen entgegen.

Das Roma-Museum entstand ziemlich genau am Umschlagspunkt zwischen Repression und Anerkennung. Dieser Übergang schlägt sich auch im Inneren des Museums nieder. Der Verfolgungsgeschichte wird, architektonisch und gestalterisch fein säuberlich getrennt, die Geschichte der Faszination und der Folklore entgegensetzt. Eine merkwürdige Doppelung, die in auffallender Weise einen „Zigeuner“-Topos des 19. Jahrhunderts fortschreibt. Damals war das Kippbild der „Zigeuner“ entstanden: Sie galten einerseits als unterdrückte, letztlich elende Geschöpfe. Zugleich aber wurden sie auch als fremde, faszinierende, oft edle Gegenbilder des Bürgertums gefeiert.

Immer wieder stand im Zentrum der Aufmerksamkeit die Zigeunerin. Herausgestellt wurde ihre angeblich besondere Schönheit, beschrieben wurden ihre sexuellen Reize und ihre Gesten der Verführung. Gewiss: Die rabiaten ethnologischen Beutezüge des 19. Jahrhunderts, die der kolonialistischen Gewalt um nichts nachstehen, sind inzwischen vorbei. Aber die Tradition der Exotisierung ist nicht gänzlich passé. Auch in Brünn sind die Roma als Boten einer fremden, faszinierenden Welt dargestellt, die Besucher treffen auf die Bilder der „schönen Zigeunerin“, sie staunen über die herrlichen Kleidungsstücke, bewundern fremde Sitten und Bräuche. Im Handumdrehen sind die Roma wieder zu modernen Repräsentanten des Exotischen geworden.

Lucie Kořinková sieht das natürlich nicht so. Das Museum, so betont sie, ist weit mehr als eine Schausammlung. „Wir haben mittlerweile über 30.000 historische und zeitgenössische Objekte gesammelt – Kleider, Textilien, Einrichtungsgegenstände, Schmuck, schriftliche Dokumente, Plakate, Poster, Fotos, Ansichtskarten, Malereien, Film- und Tonaufzeichnungen.“ Nur ein kleiner Teil wird in den Schauräumen gezeigt, vieles liegt im Depot und wartet darauf, von kundigen Forschern entziffert zu werden. Das Brünner Roma-Museum, darauf ist Frau Kořinková sichtlich stolz, verfügt damit über eine der europaweit umfangreichsten Dokumentationen zur Geschichte und Kultur der Roma. Die Beschäftigung mit Roma-Kultur sei in Mode: Jedes Jahr findet in Prag unter dem Namen „Khamoro“ (kleine Sonne) ein Roma-Festival statt. Roma-Musik hat, im Zuge des Balkan-Revival, die Bühne der Weltmusik erklommen. Das ist die Oberfläche, die Faszination der Exotik.

Die Realität dahinter schaut freilich anders aus. Man brauche nur, meint Lucie Kořinková, einen Blick auf die Bratislavská zu werfen. Arbeitslosigkeit, Armut, Alkoholismus, mangelnde Sprachkenntnisse, das sind für viele Roma-Angehörige in der Umgebung die Probleme des täglichen Lebens. Zwar sind viele der Roma-Nachbarn stolz auf das Museum, aber regelmäßige Besucher sind sie deshalb noch lange nicht. Wer um sein tägliches Überleben kämpft, findet die Schwelle einer Kultureinrichtung sehr bald zu hoch. Die Kinder allerdings kommen, erzählt Frau Kořinková: „Jeden Nachmittag sind die Roma-Kinder aus der Umgebung hier im Museum. Wir haben eine Art Nachmittagsbetreuung eingerichtet, unterstützen die Kinder bei ihren Hausaufgaben. Damit ist das Museum auch eine Art soziale Drehscheibe geworden.“

Es ist schon spät am Nachmittag. Wir brechen auf und wollen zu Fuß noch einen Abstecher in das schöne Brünn machen. „Ist das Auto hier sicher?“, frage ich Lucie Kořinková. Sie versichert mir: „Ja, kein Problem.“ In diesem Augenblick merke ich, dass ich all die Bilder im Kopf habe, die ich gerade hier in Brünn für einen Augenblick ablegen wollte. Wir spazieren die Bratislavská hinunter, und wieder stehen die Männer und Frauen an den Fenstern. Sie beobachten nicht, sie schauen nur. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2009)

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