Afghanistan. Regierung meldet Vertreibung der Taliban-Extremisten.
Kabul. Die afghanische Regierung verbreitete am Donnerstag erste Siegesmeldungen: Sondereinheiten der afghanischen Armee seien bis ins Zentrum der umkämpften nordafghanischen Stadt Kunduz vorgedrungen, um mit der Vertreibung der Taliban zu beginnen. „Die Sicherheitskräfte haben die Innenstadt von Kunduz unter ihrer Kontrolle“, sagte der Sprecher des afghanischen Innenministeriums, Sedik Sedikki, der französischen Nachrichtenagentur AFP. Die „Aufräumoperation“ werde aber noch Zeit in Anspruch nehmen, da sich Taliban-Kämpfer zum Teil noch in Häusern verschanzt hielten.
Zuvor hatte der stellvertretende Innenminister, Ayub Salangi, erklärt, Kunduz sei bei einem Spezialeinsatz in der Nacht auf Donnerstag befreit worden.
Ein Sprecher der Taliban behauptete zunächst aber, dass seine Gruppe Kunduz nach wie vor unter Kontrolle habe: Die afghanischen Soldaten seien am Morgen wieder aus der Stadt vertrieben worden, sagte Zabihullah Mujahid.
Gefechte in den Straßen
Im Gegensatz dazu gestand ein Kommandant der Taliban in einem Gespräch mit der AFP ein, dass sich die Aufständischen aus fast allen Teilen von Kunduz zurückgezogen hätten. Mit der überraschenden Einnahme der Stadt am Montag hätten die Taliban jedoch bewiesen, dass sie auch jede andere Stadt erobern könnten, „wann immer wir wollen“.
Einwohner von Kunduz berichteten, dass im Zentrum der Stadt nun afghanische Soldaten zu sehen seien. Afghanische Soldaten haben demnach die Taliban-Fahne durch die afghanische Flagge ersetzt. In manchen Teilen der Stadt werde allerdings noch gekämpft. In den Straßen liegen Leichen von Taliban-Kämpfern.
Hunderte Taliban-Kämpfer hatten Kunduz am Montag überrannt, ohne auf nennenswerte Gegenwehr zu stoßen. Am folgenden Tag startete die afghanische Armee eine Gegenoffensive. Am Mittwoch bekam sie Unterstützung durch die Nato-Spezialeinheiten.
Die Taliban hatten die Hauptstadt Kabul und den Großteil Afghanistans bis Ende 2001 beherrscht. Dann wurden sie durch eine von den USA angeführte Militäroffensive gestürzt. Die Taliban hatten al-Qaida-Chef Osama bin Laden Unterschlupf gewährt und waren deshalb nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ins Fadenkreuz der US-Regierung geraten. Die Taliban hatten mit einer strengen Auslegung islamischen Rechts und paschtunischer Stammesgesetze geherrscht. Für Frauen galt die Burka-Pflicht, mutmaßliche Ehebrecherinnen wurden gesteinigt. Seit dem Sturz ihres Regimes 2001 führten die Taliban einen Untergrundkrieg gegen die Nachfolgeregierung in Kabul und die internationale Afghanistan-Schutztruppe.
Der jüngste Überraschungserfolg der Extremisten in Kunduz und den benachbarten Provinzen zeigt, wie sehr die Taliban wieder an Stärke gewinnen. Und es unterstreicht die Zweifel an der Fähigkeit der afghanischen Armee, ohne die Hilfe internationaler Truppen für Sicherheit zu sorgen. Eigentlich wollte die Nato Ende 2016 fast alle verbliebenen Soldaten aus Afghanistan abziehen.
Flucht nach Deutschland
In Kunduz sind ursprünglich deutsche Soldaten stationiert gewesen. Wie nun die Deutsche Presse Agentur berichtet, wollen fast 1700 ehemalige afghanische Mitarbeiter der Bundeswehr und deutscher Behörden nach Deutschland, weil sie sich in ihrer Heimat bedroht fühlen. Doch nicht einmal jeder zweite Antrag wird angenommen. Deutschlands Verteidigungsministerin, Ursula von der Leyen, hat sich im April für eine schnellere und großzügigere Aufnahme der afghanischen Kräfte ausgesprochen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2015)