Kroatiens Außenministerin Pusić kritisiert in der Flüchtlingskrise die EU und fordert: „Wir müssen das Problem an der Wurzel angehen.“
Die Presse: Ungarn baut einen Zaun an der Grenze zu Kroatien. Was passiert, wenn der Zaun fertig ist und die Grenze zugemacht wird ?
Vesna Pusić: Die Europäische Union hätte sich um diese Sache kümmern müssen, lange bevor Ungarn angefangen hat, einen Zaun an der Grenze zu Kroatien zu bauen. Das war eine sehr schlechte Idee, in erster Linie für Ungarn.
Warum?
Sie wird das Flüchtlingsproblem in keiner Weise lösen. Sie wird Ungarn isolieren – das ist das Einzige, was es bewirkt. Das ist nicht die Art und Weise, wie die EU das Problem angehen sollte. Der richtige Weg ist vor allem, sich mit der Türkei, Jordanien und dem Libanon zusammenzusetzen, die vier bis fünf Millionen Flüchtlinge aufgenommen haben, und ihnen finanziell zu helfen. Die Flüchtlinge kommen ja alle über diese Länder.
Wird Kroatien weiterhin tausende Flüchtlinge an die ungarische Grenze führen, wenn Budapest dort zumacht? Oder gibt es eine anderweitige Vereinbarung mit Budapest?
Vor Ort kooperieren die Ungarn absolut. Sie bringen die Busse und transportieren diese Menschen an die österreichische Grenze. So hat das die ganze Zeit funktioniert.
Aber was passiert, wenn Ungarn die Grenze schließt?
Die Menschen werden sicher nicht in Kroatien bleiben. Sie wollen auch nicht in Ungarn bleiben. Kroatien kann auch die Grenze zu Serbien schließen – aber wir werden sicher keine Mauern bauen. Davon hatten wir genug in Europa. Keine Mauer wird diese Menschen aufhalten.
Gibt es Pläne, die Grenze zu Serbien zuzumachen?
Nein. Wir haben einige Grenzübergänge zugemacht, um den Ansturm zu verlangsamen, weil wir nicht einmal die grundlegende Versorgung sicherstellen konnten.
Wenn Ungarn zu ist, geht es nur noch über Slowenien. Was dann – werden die Menschen über einen Korridor über Slowenien weitergeleitet?
Sie haben schon einen Korridor. Wir sind in Kontakt mit ihnen. Aber das kann nur über eine kurze Zeit funktionieren. Wir brauchen einen aktiven Ansatz. Und der kann nur in der Türkei umgesetzt werden.
Deutschland hat klargemacht, dass es nicht unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen kann. Wenn Deutschland zumacht, gibt es einen Rückstau. Was ist dann das Szenario in Kroatien?
Wir müssen das Problem an der Wurzel angehen. Oder was sollen wir dann machen – die Menschen alle in Griechenland lassen? Dann wird Griechenland auseinanderfallen. Es kann auch nicht in Europas Interesse sein, sie in Mazedonien oder Serbien zu lassen, die Länder werden unter diesem Druck zerfallen. Und das kann in niemandes Interesse sein.
Apropos Griechenland: Die Union hat jüngst Quoten beschlossen, die bei Weitem nicht ausreichend sind. Warum nicht gleich die griechische Grenze schützen?
Griechenland kann seine Grenzen nicht allein schützen. Europa muss das gemeinsam angehen und die Sache nicht als Problem eines einzigen Landes behandeln. Ja, Griechenland ist ein Schengen-Mitglied und muss seine Grenze schützen. Aber das ist wie ein Tsunami. Und es gibt gewisse Regeln, an die man sich unter normalen Umständen halten muss. Und dann gibt es außerordentliche Umstände wie zigtausende Flüchtlinge, bei denen man außergewöhnliche Antworten finden muss.
Die da wären?
Die EU war nicht ausreichend vorbereitet, vor allem nicht auf die Geschwindigkeit, mit der das passiert ist. Wir hätten die türkischen Warnungen, dass sie mit der Situation nicht mehr allein fertigwerden, früher ernst nehmen müssen. Wir haben von dem Problem nicht zum ersten Mal in diesem Sommer gehört. Keine Grenze, kein Schengen, kein internationales Übereinkommen wird einen Ansturm von Menschen in dieser Größenordnung stoppen. Wir haben diesen Winter, um die wahre Ursache anzugehen: den syrischen Bürgerkrieg zu stoppen. Da müssen sich jetzt vor allem die Amerikaner, die Russen und die Europäer zusammensetzen.
Bei den Landtagswahlen in Oberösterreich hat die FPÖ auch aufgrund der Flüchtlingskrise einen starken Zuwachs erhalten. Werden rechtspopulistische Parteien in ganz Europa nun wegen der Situation einen Aufschwung erleben?
Ja, und das passiert teilweise schon. Deshalb brauchen wir eine starke politische Führung. Auch die Vertreter der Kirche und der Zivilgesellschaft müssen eine klare Haltung beziehen. Der Papst ist dafür ein gutes Beispiel. Hier braucht es Mut. Wenn man sich versteckt, schafft man Raum für Extremisten. Die Menschen haben Angst. Das ist nicht überraschend. Und sie haben umso mehr Angst, wenn das Flugzeug keinen Piloten hat.
ZUR PERSON
Vesna Pusić. Die 62-jährige Politikerin, 1990 Gründungsmitglied der liberalen Volkspartei (HNS) und seit zwei Jahren Parteichefin, amtiert seit bald vier Jahren als Außenministerin im Kabinett Milanović. Die ehemalige Soziologieprofessorin an der Universität Zagreb gründete Ende der 1970er-Jahre die erste feministische Gruppe in der kroatischen Hauptstadt. Vor sechs Jahren trat sie bei den Präsidentenwahlen an – und verlor glatt. [ Imago ]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2015)