Die Nacht, als der Penis fiel

Am Anfang ist Michal Kirchner umschwärmter Callboy. Wenige Jahre später ein Wrack, von Drogen zerfressen. Und schließlich eine Frau. Michal Hvoreckys Roman „Eskorta“: Nachrichten aus der Zukunftsmetropole des entfesselten Kapitals – Bratislava.

Ein ungemein schnelles, thematisch vielschichtiges und teilweise auch absurd-groteskes Buch über den (zumindest von Wien aus gesehen) ganz nahen Osten legt Michal Hvorecky mit seinem neuen Roman „Eskorta“ vor. Die deutschsprachige Kritik hat zur Bezeichnung dessen, was der junge Autor in seinem Schreiben macht, auch schon einen passenden Hilfsbegriff gefunden: Popliteratur aus der Slowakei. Erklärungsbedürftig und hinterfragenswert sind beide Begriffe, denn dass es eine eigenständige Literatur aus der Slowakei gibt, wurde im Westen zunächst nicht recht wahrgenommen. Michal Hvorecky indes wird nicht müde, in Interviews und Fernsehauftritten zu erklären: Neben dem, was man lange Zeit für die tschechoslowakische Literatur hielt (Hrabal etwa, Havel und Kundera), gab und gibt es eine spezifisch slowakische Tradition des Schreibens – in einer Sprache, die die Slowaken gegenüber dem Tschechischen als etwas Eigenständiges sehen.

Michal Hvorecky ist seit seinem Roman „City. Der unwahrscheinlichste aller Orte“ (deutsch: 2006) das Aushängeschild einer neuen slowakischen Literatur: ein smarter Bursche, 1976 geboren; Deutsch spricht er fließend. Unterstützt von zahlreichen Preisen und Stipendien hat der Autor mehrere Jahre in Deutschland gelebt. Jüngst aber verlegte er seinen Hauptwohnsitz wieder dorthin, wo er herkommt: nach Bratislava. Wie Hvorecky erklärt, braucht er diese Umgebung zum Schreiben. Die Präsenz eines Publikums, das er in dem Land so zahlreich findet, sowie die slowakische Sprache und das ganze Umfeld, aus dem sein Schreiben kommt.

Allein diese Hintergründe belegen: Popliteratur ist „Eskorta“ wohl nur bedingt, auch wenn das Buch über weite Strecken schrill und laut und dabei immer unterhaltsam ist. Schon der Titel des ersten Teilabschnittes der Lebensgeschichte von Michal Kirchner, die hier in vier recht unterschiedlichen Teilen und einem wahnwitzigen Epilog erzählt wird, posaunt in ihrem Titel den Namen hinaus, um den es geht: „Brrraatislavaaaa“. Was diese Stadt, die uns hier in Wien so nah und zugleich so fern ist, zum Ausruf macht, lässt „Eskorta“ wenig später erkennen: Der Osten ist verrückt geworden, weil er wie der Westen ist, aber schlimmer.

Bratislava erscheint in dem Buch ganz und gar nicht so, wie man es vielleicht selbst von dem einen oder anderen eher beschaulichen Wochenendausflug kennt. Nein: Die Stadt an der Donau stellt sich hier als eine Zukunftsmetropole des entfesselten Kapitals dar, in der sich russische Oligarchen und westliche Manager auf Milliadärsmessen vergnügen, wo es neben Luxusjachten, Hubschraubern, Heliports und Airbussen mit Sonderausstattung ganze Länder zu kaufen gibt – wie zum Beispiel das recht preiswerte Albanien. Rundherum finden Dinner-Partys, Preview-Partys, Skylounge-Partys, Cill-Out-Clubs, Casino-Pool-Lounges oder Rooftop-Partys statt. Michal Kircher, die Hauptfigur des Buches, ist stets mittendrin, denn er besorgt für die Begleitagentur „Eskorta“ das Damenprogramm.

Unter dem Titel „Der Westen ist jetzt im Osten“ entwickelt das zweite Kapitel des Buches diese Callboy-Geschichte in einer ungeheuren Geschwindigkeit. Weniger als 50 Druckseiten benötigt Hvorecky, um die gut zehn Jahre des glanzvollen Auf- und des langsamen und unvermeidlichen Abstieges Kirchners innerhalb jenes prosperierenden Berufszweiges zu erzählen: eine Geschichte der allumfassenden Prostitution, in der alles, aber auch wirklich alles zu einer Ware wird, wobei aber diese ganze goldene Warenwelt in einem zusehends schräger werdenden Blickwinkel erscheint.

Am Ende ist Kirchner ein Wrack: von Drogen zerfressen, geistig zerrüttet und auch körperlich am Sand. Niemand bucht ihn mehr, und wenn, dann höchstens noch als Hundesitter, bis ihn die Agentur schließlich von der Website nimmt.

„Meine Familie stammt aus der Tschechoslowakei“, heißt es im ersten Kapitel des Buches: „Dafür kann ich nichts.“ Tatsächlich ist es eine höchst seltsame Familie, aus der Kirchner (1973 in Prag geboren) stammt. Der homosexuelle Großvater, ein angesehener Anwalt, wurde für seine Veranlagung von den Nazis verfolgt und in Theresienstadt umgebracht. Der ebenfalls homosexuelle Vater, ein Soziologe: eingebettet in den tschechischen Untergrund, bekam deshalb mit den Kommunisten Probleme. Wie sich nach der Wende herausstellte, hat er als Informant für den Geheimdienst gearbeitet. Der Sohn, der als Callboy zu Geld kommt, pflegt mit ihm so gut wie keinen Kontakt.

Die Familie ist in der Familie von Michal Kirchner stets nur eine leere Hülse, ein Alibi vor den anderen. Das schlägt auf die Identität des Haupthelden durch. Schon der erste Satz des Buches lautet: „Ich war schon immer davon überzeugt, dass ich als Frau besser ausgesehen hätte.“

Am Ende des Buches, nachdem Michal nach seinem Absturz als käuflicher Liebhaber mit der Tochter einer ehemaligen Kundin in einem verschneiten hinteren Eck des Landes eine heiße und für das Mädchen schließlich tödliche Liebesgeschichte erlebt hat, erfüllt sich sein Traum: Michal schluckt Hormone, der Bartwuchs bleibt aus, es wachsen ihm Brüste, und letztlich fällt ihm wie nebenbei, eines Nachts, auch noch der Penis ab.

Damit nicht genug, denn am Ende wird in dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das sein Heimatland nunmehr ist, Michal Kirchner tatsächlich schwanger. Mit seiner Tochter Sophie lebt er, der jetzt eine Sie ist und sich Michaela nennt, zurückgezogen am Stadtrand und erfreut sich der Mutterschaft und der Entwicklung des Kindes. Nur noch selten kommt Michaela in die Stadt. Am letzten Wochenende, so heißt es ganz am Ende des Buches, fand dort das „Fest der Autos“ statt. Diese Feierlichkeit, die jährlich begangen wird und an die Unterzeichnung des Investorenvertrages für die neue Autofabrik erinnert, hat den alten Staatsfeiertag abgelöst.

Ganz Bratislava ist jetzt Fernost: Ein Zen-Meister aus dem Fernsehen lässt Luftballons fliegen, Schüler der Grundschule tragen Gedichte eines gewissen Kim Man-Jung vor, und auf der Hauptbühne erscheint der Staatspräsident in traditioneller Hanbok-Tracht. Die einheimische Bevölkerung verneigt sich rituell vor den neuen Automodellen und ruft dazu laut: „Kamsa hamnida!“ Dankeschön – was für eine Vision am Vorabend der Weltwirtschaftskrise. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2009)

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