Pilgern auf Japanisch per Boot

Schreintor des Itusukushima-Schreins
Schreintor des Itusukushima-Schreins(c) Wikipedia/Frank "Fg2" Gualtieri
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Japans Shintoismus bleibt für Touristen aus dem Westen eine rätselhafte Religion – auch wenn man sakrale Stätten besucht, etwa das schwimmende Schreintor des Itusukushima-Schreins auf der heiligen Insel Miyajima,

„Bitte bleiben Sie ruhig sitzen, und wechseln Sie nicht auf die andere Bootsseite“ knistert die Stimme des Kapitäns durch den Lautsprecher. Das Ausflugsboot mit 40 Touristen hat gerade abgelegt und tuckert gemächlich durch die Hiroshima Bay. Links sind dunkel die Umrisse der heiligen Insel Miyajima zu sehen, ein paar einsame Lichter blinken, der 530 Meter hohe Berg Misen hebt sich schwarz gegen den Nachthimmel ab.

Der Kapitän verliest eine langatmige Erläuterung auf Japanisch, es geht um lokale Legenden und eine Göttin, die sich im sechsten oder siebenten Jahrhundert auf Miyajima niedergelassen hat. Für die paar Ausländer hat er eine laminierte Zeichnung mitgebracht: Die Silhouette der gebirgigen Insel, über die jemand die Konturen einer liegenden Frau gemalt hat. Mit viel Fantasie ist die Gottheit auf dem Bild zu erkennen. Die Göttin namens Ichikishima-hime ist eine Tochter des Sturmgotts Susanoo und damit eine Nichte der Sonnengöttin Amaterasu. Die Sonnengöttin ist die zentrale Schöpfergottheit im japanischen Shinto-Glauben, und die Inselgöttin Ichikishima-hime durchaus einflussreich im japanischen Götterpantheon.

Doch schon bevor sich die Göttin und ihre Schwestern die Insel als Wohnsitz ausgesucht hatten, galt Miyajima als heilige Insel. Bis ins zwölfte Jahrhundert war sie für fast alle Menschen, abgesehen von einigen Shinto-Priestern, tabu und durfte nicht betreten werden. Dann wurde ein großer Shinto-Schrein gebaut, um den bald ein Pilger- und Handelsort entstand, männliche Pilger durften die Insel besuchen, das Verbot für Frauen blieb bis ins 20. Jahrhundert bestehen. Einen Friedhof gibt es bis heute auf Miyajima nicht, denn im Shintoismus ist der Tod unrein.

Bald schimmert von links vorn ein rötlicher Lichtschein über die Wasseroberfläche. Der orangefarbene Schrein und sein orangefarbenes Torii, das Eingangstor, kommen in Sicht. „Kann man diese Fenster aufmachen?“ ruft eine Deutsche aufgeregt. Das im Wasser stehende Eingangstor kennen alle vom Foto aus dem Reiseführer. „Also, ich geh nach vorn auf den Bug raus!“ Füßescharren, Stühlerücken, die Fotografen eilen hinaus, das Boot schaukelt ein bisschen. Das Boot dreht bei – direkt vor dem Bug liegen der Schrein und das mächtige Eingangstor aus Holz, das den Eingang zum heiligen Bezirk des Shinto-Schreins auf der Insel markiert. 16 Meter ist es hoch, die Pfosten sind im unteren Bereich noch zu allen Seiten zusätzlich abgestützt.

Doch trotz dieser wuchtigen Basis scheint es auf der Wasseroberfläche zu schwimmen. Der Kapitän reicht ein Stück Holz herum, das dicht, schwer und glatt in der Hand liegt. Es ist Kampfer, ein einheimischer lorbeerähnlicher Baum, dessen hartes Holz dem aggressiven Meerwasser trotzt. Dennoch ist das Tor bereits das achte, das hier in den vergangenen neun Jahrhunderten errichtet worden ist.

Übernachten im Ryokan

1996 wurde der Itsukushima-Schrein samt Tor und dem Berg Misen in die Liste der Unesco-Weltkulturerbestätten aufgenommen – jährlich besuchen über zwei Millionen Touristen die Insel, die nur etwa 2000 Einwohner hat. Die Mehrzahl kommt nur für einen Tagesausflug aus dem nahen Hiroshima, doch auf Miyajima nehmen auch einige Ryokan, japanische Gasthäuser, Übernachtungsgäste auf. Die Fähren legen an einer modernen Pier 700 Meter östlich des Schreingeländes an – früher fuhren die Boote der Pilger durch das Tor im Wasser direkt in die Bucht vor dem Schrein. Damit befanden sich die Gläubigen im heiligen inneren Bezirk des Schreins, ohne noch einen Fuß auf die Insel gesetzt zu haben. Ein theologischer Trick, denn so galten die Gebete und Weihrauchopfer als im Tempel dargebracht, selbst wenn die Durchschnittspilger die Insel gar nicht betreten durften.

Langsam schiebt sich das Boot nun auf das Tor zu, das aufgeregte Plappern geht in ein beeindrucktes Raunen über, unterbrochen vom Klacken der Kameraauslöser. Vor uns liegt stimmungsvoll beleuchtet der Itsukushima-Schrein, der ebenfalls auf Stelzen in die Bucht gebaut ist und flach und weit vor dem Ufer und der Bergsilhouette liegt. Jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt fürs Gebet: Die Göttin mit ihrem guten Draht zum Sturmgott und zur Sonnengöttin könnte doch vielleicht ein gutes Wort einlegen, zumindest zum Beispiel für das Wetter auf dem Rest der Japan-Reise? Und dann wendet das Boot und fährt, wie es gekommen ist, durch das Tor zurück – ganz wie die Pilger früher.

Nach einer halben Stunde Fahrt sind wir wieder am Fähranleger und auf der einst verbotenen Insel. Heute können Touristen ohne aufwendige Reinigungszeremonien den Itsukushima-Schrein besichtigen und sogar bequem mit der Seilbahn auf den heiligen Berg Misen hinauffahren. Im aufgekratzten Besucherstrom ist es aber gar nicht so leicht, Verständnis für die archaische, aber immer noch sehr lebendige Naturreligion des Shintoismus zu entwickeln – da erahnt man auf der nächtlichen Fahrt durch das orangefarbene Tor doch mehr von der spirituellen Bedeutung der Insel.

DURCHS TOR ZUM SCHREIN

Anreise: Wien–Tokio mit Lufthansa und ANA, hin über München und retour, nonstop ab etwa 640 Euro, nach Osaka/Kyoto über Düsseldorf und Frankfurt, hin und retour über Tokio ab 660 Euro. Miyajima ist von Kyoto aus in etwa 2 ½ Zugstunden zu erreichen. lufthansa.com

Sicherheit: Außer im unmittelbaren Sperrgebiet um das 2011 von einem Tsunami beschädigte Kernkraftwerk von Fukushima (20-km-Radius) ist der Aufenthalt in Japan aus radiologischer Sicht völlig unbedenklich (TÜV-Zertifikat). Die Erdbebengefahr ist überall in Japan relativ hoch. Die Kriminalitätsrate ist extrem niedrig.


Unterkunft:
Empfehlenswert ist auf der Insel Miyajima die Übernachtung in einem traditionellen japanischen Gasthaus, einem Ryokan, z. B. im Iwaso Ryokan Hotel, www.iwaso.com/english/, DZ mit Halbpension ab 220 Euro.
Billiger ist das Nakaya B&B, www.nakaya-bandb.com, DZ, nur Übernachtung ab 116 Euro.
Rucksackreisende schlafen günstig im Backpackers Miyajima, www.backpackers-miyajima.com, Übernachtung 22 Euro pro Person im Schlafsaal.

Infos: Japanische Fremdenverkehrszentrale in Frankfurt, www.jnto.de.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2015)


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