Fall Luca: Ministerium beschuldigt Ärzte

Kommt es im Fall Luca zu weiteren Verfahren?
Kommt es im Fall Luca zu weiteren Verfahren?(c) Clemens Fabry
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Juristischer Eklat. Laut Gesundheitsministerium hätten die Mediziner anzeigen müssen. Weitere Verfahren könnten folgen. Der 17 Monate alte Luca verstarb im Herbst 2007 an den Folgen sexuellen Missbrauchs.

Innsbruck. Nun gehen die Wogen im Streit um die Verantwortung im Fall Luca hoch: Der oberste Jurist im Gesundheitsministerium, Gerhard Aigner, sagt im Gespräch mit der „Presse“, dass für Mediziner bei Verdacht auf Kindesmisshandlung oder -missbrauch, gemäß § 54 des Ärztegesetzes, die Anzeigepflicht gilt. Auch wenn sich dieser Verdacht gegen nahe Angehörige richtet. Eine Wiederaufnahme der Ermittlungsverfahren gegen die in den Fall Luca involvierten Ärzte sei daher, so Aigner, juristisch gerechtfertigt. Diese sind eingestellt worden. Auf Antrag von Lucas Vater, der den Ärzten genau dieses Versäumnis vorwirft, prüft die Staatsanwaltschaft Innsbruck derzeit die Wiederaufnahme.

Der 17 Monate alte Luca verstarb im Herbst 2007 an den Folgen sexuellen Missbrauchs. Der Täter, der damalige Freund der Mutter, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. In einem zweiten Prozess wurden die Mutter und eine Sozialarbeiterin der JUWO (Jugendwohlfahrt) am Montag vergangener Woche ebenfalls, noch nicht rechtskräftig, schuldig gesprochen. Nun könnten weitere Verfahren gegen Mediziner, wie den Leiter der Kinderschutzgruppe an der Klinik Innsbruck, folgen. Denn keiner der in den Fall involvierten Ärzte hat Anzeige erstattet. Der Misshandlungsverdacht wurde „nur“ an die JUWO gemeldet.

„Diese Interpretation ist uns neu“

„Dieses Vorgehen ist gängige Praxis“, bestätigt jedoch Hans Salzer, Primar am LK Tulln, Leiter der dortigen Kinderschutzgruppe und Experte auf diesem Gebiet. Aigners Vorstoß komme einer juristischen Kehrtwende mit weitreichenden Konsequenzen gleich: „Diese Gesetzesinterpretation ist uns neu. Es geht völlig an der Realität vorbei, jeden Verdachtsfall anzuzeigen.“ Die Arbeitsgruppe Kinderschutz, in der die Kinderschutzgruppen der heimischen Spitäler vertreten sind, plant eine Anfrage ans Ministerium zur Erläuterung dieser Gesetzesinterpretation.

Jurist Aigner versteht die Aufregung nicht: „Die Meldung an die JUWO ersetzt die Anzeige nicht. Das ergibt sich ganz klar aus dem Ärztegesetz und müsste allen Medizinern bekannt sein.“ Für die Ärzte ein Affront. Wurde doch genau dieser Gesetzestext bei Inkrafttreten 2001 noch als Ende der absoluten Anzeigepflicht gefeiert oder, je nach Ansicht, verteufelt. Sie befürchten eine Rückkehr zur Anzeigepflicht. „Das ist nicht im Sinne des Opferschutzes“, sagt Salzer. Zwar verlangen die Mediziner seit Langem eine klare Definition der Dauer des Aufschubs, den ein Arzt bis zur Anzeige hat. Doch über den Vorteil der Meldung an die JUWO gegenüber einer Anzeige herrschte bisher Konsens unter Medizinern, der JUWO sowie Kinderschutzeinrichtungen. Bedeutet doch ein falscher oder nicht beweisbarer Verdacht, wenn er sofort polizeiliche Ermittlungen nach sich zieht, für die Betroffenen eine zusätzliche Traumatisierung. Noch im Vorjahr wurde die Wiedereinführung der absoluten Anzeigepflicht im Zuge des Gewaltschutzpaketes durch den massiven öffentlichen Widerstand sämtlicher mit dem Gebiet befassten Experten verhindert.

„Anzeigepflicht nie abgeschafft“

Doch Jurist Aigner bleibt dabei: „Die Anzeigepflicht ist nie abgeschafft worden. Im Gesetz ist nur von einer zeitlichen Aufschiebung im Ausnahmefall die Rede. Wer etwas anderes behauptet, liegt definitiv falsch.“ Und legt nach: „Während der Arzt mit der Anzeige abwartet, muss er sicherstellen, dass dem Kind nichts mehr passieren kann. Etwa durch stationäre Aufnahme.“ Entlässt der Arzt das Kind in Obhut der Eltern, sei diese Sicherheit nicht garantiert, so Aigner – selbst wenn die JUWO den Fall übernimmt und die Familie betreut: „In dubio für die Anzeige.“

Für die Ärzte ist die praxisferne Gesetzesauslegung eine weitere falsch verstandene Lehre aus dem Tod des kleinen Luca. Statt im Sinne des Kindeswohles die Systemfehler zu beheben, werde weiter Verantwortung abgewälzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2009)

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