Europas verlogener Umgang mit der Türkei

In der Flüchtlingskrise braucht Brüssel die Hilfe Ankaras, deshalb wird ein kritischer Bericht verschoben und versucht, mit zweierlei Maß zu messen.

Die Türkei spielt wieder einmal ihr eigenes Spiel: Sie vertritt ihre nationalen Interessen im Kampf gegen den IS, im Verhältnis zu Kurden und Nachbarstaaten. Allein wie Ankara nun agiert, zeigt, dass die EU gut beraten ist, einen solchen Staat nicht aufzunehmen. Ein zusätzliches großes Land, das ausschließlich auf sich selbst achtet, sich ständig aus seiner internationalen Verantwortung windet, würde die Europäische Union in Zeiten der Krise gänzlich paralysieren.

Nur zu dumm, dass die EU gerade jetzt auf diese Türkei und ihren autokratisch regierenden Staatspräsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, angewiesen ist. Seit dem vergangenen EU-Gipfel wird hinter verschlossenen Türen in Brüssel eine neue Türkei-Politik vorbereitet. Es wurden Aktionspläne entwickelt, mögliche finanzielle Unterstützungen für Flüchtlingslager sondiert. All das geschah im Bewusstsein, dass Erdoğan an einem wichtigen Hebel in der Flüchtlingsthematik sitzt. Er entscheidet mit, wie viele der über zwei Millionen im Land befindlichen Syrer Richtung EU aufbrechen.

Wie aber reagiert die europäische Politik? Sie führt einerseits Gespräche mit dem türkischen Präsidenten, was durchaus richtig und nachvollziehbar ist. Sie versucht aber andererseits, den wirklich heiklen Fragen verlogen auszuweichen. Dabei geht es nicht etwa darum, ob der Türkei mit einem Mal wieder eine Aussicht auf einen EU-Beitritt gewährt werden sollte. Es geht vielmehr um Themen, die von einigen europäischen Regierungen gemieden werden, als wären sie die innenpolitische Pest – etwa die Visumfreiheit für türkische Staatsbürger. Wenn die Türkei nun als sicheres Herkunftsland eingestuft werden soll, in das Flüchtlinge ohne Weiteres zurückgeschoben werden können, wäre es schwer, ihr diesen Wunsch abzuschlagen. Denn damit würde mit zweierlei Maß gemessen. Das Land würde für Flüchtlinge als sicher gelten, die Einwohner des Landes wären in der EU aber per se weiterhin als unsicher eingestuft.

Während sich europäische Regierungen aus innenpolitischen Gründen davor fürchten, letztlich einer freien Einreise von Türken in Brüssel zuzustimmen, gibt es in der Türkei ebenfalls einen starken innenpolitischen Druck, genau das einzufordern: Die Visumfreiheit ist für türkische Staatsbürger immens wichtig, um Kontakt zu den zahlreichen Verwandten in der EU zu halten. Erdoğan wird alles dafür tun, zumindest dieses Gegengeschäft mit den EU-Mitgliedstaaten abzuschließen.

Ein zweiter Widerspruch tut sich auf, wenn die Türkei als sicheres Herkunftsland für Flüchtlinge eingestuft werden soll: Dann könnte nämlich die EU das Justizsystem des Landes nicht weiterhin so scharf kritisieren, sie könnte schwerlich rechtsstaatliche Reformen einfordern. Denn entweder ist das Land für Flüchtlinge sicher, weil es ein verlässliches Justizsystem hat, oder es ist unsicher, weil die politische Beliebigkeit dort über menschliche Einzelschicksale entscheidet.

Weil das nicht zusammengeht, wurde die für nächste Woche vorgesehene Veröffentlichung des EU-Fortschrittsberichts zum Beitrittskandidaten Türkei bis auf Weiteres von der EU-Kommission aufgeschoben. Darin dürfte so wie alle Jahre der Umgang des Erdoğan-Regimes mit Regierungskritikern und Medien ebenso angeprangert werden wie der politische Einfluss auf das Justizsystem. Erst im vergangenen Jahr hat Brüssel gravierende Mängel bei demokratischen Grundrechten kritisiert. Das sind Themen, die Verhandlungen mit Ankara derzeit behindern würden.

All das riecht nach einem faulen Kompromiss von beiden Seiten. Erdoğan könnte auf erpresserische Weise die Visumfreiheit durchsetzen, und die EU-Regierungen dürften ihren bisherigen Wertmaßstab, mit dem sie jahrelang gegen die Aufnahme des Landes argumentiert haben, ad acta legen.

Der einzige Ausweg ist noch mehr Geld für die Türkei. Das erste Angebot der EU zur Unterstützung in der Flüchtlingsfrage lag bereits bei einer Milliarde Euro. Erdoğan war damit nicht zufrieden. Vielleicht wird es also von EU-Seite noch aufgebessert. Denn wo die Moral endet, öffnet sich die Brieftasche noch leichter.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2015)

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