Flüchtlingskrise: Budapest hat Erklärungsbedarf

Flüchtlinge, die den ungarischen Grenzzaun überwinden, können in einem Schnellverfahren verurteilt werden. Die EU-Kommission hat Bedenken, ob das mit Europas völkerrechtlichen Verpflichtungen kompatibel ist.
Flüchtlinge, die den ungarischen Grenzzaun überwinden, können in einem Schnellverfahren verurteilt werden. Die EU-Kommission hat Bedenken, ob das mit Europas völkerrechtlichen Verpflichtungen kompatibel ist.(c) REUTERS (BERNADETT SZABO)
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Die EU-Kommission hält die Novelle des ungarischen Asylrechts für problematisch – in Brüssel gibt es Zweifel an der Fairness von Asylschnellverfahren.

Brüssel. Sollte der neue ungarische EU-Botschafter, Oliver Várhelyi, bei seinem Amtsantritt vor zwei Wochen auf eine Schonfrist gehofft haben, dann wurde er ziemlich rasch enttäuscht. In einem vom 6. Oktober datierten Brief, der von der britischen Menschenrechtsorganisation Statewatch veröffentlicht wurde, fordert die EU-Kommission den diplomatischen Vertreter Ungarns auf, bis zum kommenden Dienstag, 20. Oktober, eine offizielle Stellungnahme der Regierung in Budapest bezüglich der jüngsten Reform der ungarischen Asylgesetze an die Brüsseler Behörde zu übermitteln. Denn die erste Begutachtung der Novelle, die von Ungarn noch nicht offiziell in Brüssel kommuniziert wurde, habe „zahlreiche Bedenken und offene Fragen“ ergeben, heißt es in dem Schreiben.

Auf insgesamt zehn Seiten haben die Experten der EU-Kommission ihre Bedenken zusammengetragen. Unter anderem stößt sich die Brüsseler Behörde daran, dass die Gesetzesänderung „eine quasisystematische Ablehnung“ von Asylgesuchen noch an der serbisch-ungarischen Grenze ermögliche. Weiters sei nicht gewährleistet, dass Asylwerber an der Grenze Einspruch gegen einen etwaigen negativen Bescheid einlegen können – in den neuen Asylschnellverfahren gebe es „mögliche Mängel von ausreichenden Sicherheiten“. Für problematisch erachtet die Kommission auch die Kriminalisierung von illegalen Grenzübertritten sowie die Tatsache, dass Budapest den ungarischen Streitkräften Kompetenzen zur Grenzsicherung übertragen hat. Von der Substanz der ungarischen Antworten auf ihre offenen Fragen will die Brüsseler Behörde ihre weitere Vorgehensweise abhängig machen – sind die Erläuterungen nicht zufriedenstellend, könnte Ungarn schlimmstenfalls ein EU-Vertragsverletzungsverfahren drohen.

Aber nicht nur das ungarische Asylrecht wird in Brüssel unter die Lupe genommen. Eine Sprecherin der EU-Kommission kündigte am gestrigen Dienstag an, dass ihre Behörde demnächst die von Deutschland, Österreich und Slowenien eingeführten Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen beurteilen werde – das erste Urteil über die Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze fiel bekanntlich positiv aus. Gemäß EU-Regeln haben Mitglieder der Schengen-Zone das Recht, die Reisefreiheit in Ausnahmesituationen vorübergehend aufzuheben (das Maximum liegt je nach Ausgangslage bei zwei bzw. sechs Monaten). Berlin hat am vergangenen Freitag die Grenzkontrollen um weitere 20 Tage verlängert.

Visafreiheit als Belohnung

Die Flüchtlingskrise wird auch die Staats- und Regierungschefs der EU bei ihrem planmäßigen Gipfeltreffen am morgigen Donnerstag beschäftigen. Von „zu vielen nationalen Interessen“ sprach am Dienstag der deutsche Europa-Staatsminister, Michael Roth. Deutschland drängt auf rasche Lösungen: ein funktionierendes System von Erstaufnahmezentren (Hotspots) in Griechenland und Italien, einen dauerhaften Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge sowie mehr Zusammenarbeit mit der Türkei – die für ihren Kooperationswillen mit Visafreiheit belohnt werden könnte.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.10.2015)

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