Sauerkraut, Antisemitismus und der verrückte Wissenschaftsbetrieb

Es ist beunruhigend, dass inzwischen ganze Pseudowissenschaften heranblühen, in denen sich Scharlatane in der Rolle ausgewiesener Experten tummeln.

Die Mathematik nimmt seit jeher im Kanon der Wissenschaften eine Sonderstellung ein. In der Antike war sie – das Wort máthēma bedeutet: das, was gelernt wurde – die Wissenschaft schlechthin, aufgeteilt in Arithmetik, die reine Zahlenlehre, in Musiktheorie, die bei den Intervallen angewandte Zahlenlehre, in Geometrie, die reine Raumlehre, in Astronomie, die bei den Gestirnen angewandte Raumlehre. Die Mathematik beeindruckt einerseits, weil ihre Erkenntnisse als unbezweifelbar gelten, und andererseits, weil ihre Einsichten offenkundig bedeutsam sind.

Die heutige Aufspaltung in eine schon unübersehbar gewordene Fülle der Disziplinen, die sich als „Wissenschaften“ verstehen, erfolgte entweder nach dem Gesichtspunkt mit der von der Mathematik entlehnten Methode des scharfen Denkens, die Conditio humana in ihren verschiedensten Aspekten zu durchleuchten: Hieraus entwickelten sich die im Englischen humanities genannten Geisteswissenschaften. Oder aber man will die Welt experimentell so erforschen, dass sich daraus ähnlich unbezweifelbare Erkenntnisse gewinnen lassen, wie sie der Mathematik zu eigen sind: Hier spricht man im Englischen von science. Dieses ursprünglich nur „Wissenschaft“ bedeutende Wort steht für die Naturwissenschaften.

Doch genauso, wie es im Speziellen neben der seriösen Medizin die Kurpfuscherei gibt, verhält es sich im Zirkus der Wissenschaften im Allgemeinen: Eigenartige Typen tarnen sich als Wissenschaftler, beanspruchen Sitz und Stimme in Universitäten und Akademien, wollen öffentlich mit ihren aufgeblasenen Expertisen wahrgenommen werden und sind doch nur Scharlatane. Was besonders beunruhigt, ist aber, dass es sich hierbei keineswegs um Einzelfälle handelt, sondern dass inzwischen ganze Pseudowissenschaften heranblühen, in denen sich diese Gaukler tummeln.

Vor Kurzem machte der renommierte Schweizer Ökonom Mathias Binswanger anhand eines besonders skurrilen Fallbeispiels auf diese bereits endemisch gewordene Fehlentwicklung aufmerksam: Zwei Forschern – nomina sunt odiosa – an der Universität Bern gelang es, eine Studie in der wissenschaftlichen Zeitschrift „Psychology“ zu veröffentlichen, worin sie zu der wahrhaft fulminanten Erkenntnis gelangten: Wer Sauerkrautsaft trinkt, neigt zu fremdenfeindlichen und antisemitischen Einstellungen und zeigt sich gegenüber Behinderten weniger solidarisch.

Vielleicht, so könnte man vermuten, wollten die beiden mit ihrer Publikation nur auf die Verrücktheiten aufmerksam machen, die sich so an Universitäten ereignen. Aber es dürfte das Gegenteil der Fall sein: Die beiden meinen es bierernst: „This study shows that drinking sauerkraut juice contributes to a stronger support of Nazi-esque right wing ideology than drinking either nothing or a less-healthy beverage (Nestea).“Ihr ganzes nachfolgendes statistisches Brimborium – die beiden sind darin geübt, Mathematik als Staffage heranzuziehen – dient allein dazu, ihre ohnehin von vornherein als richtig postulierte These zu untermauern: Wer gesunde Kost zu sich nehme, fühle sich moralisch besser und könne sich deshalb, gleichsam als Kompensation, moralische Fehltritte erlauben.

All dies mussten die beiden natürlich aufbauschen: Sauerkraut ist ungesund – und „Krauts“, das sind doch die bösen deutschen Soldaten... Nicht dass es Rosstäuscher gibt verwundert, sondern dass sie den Wissenschaftsbetrieb so primitiv verschaukeln können. Und dies nicht bloß einmal. Die Zahl der Gaukler, die als Experten auf sich aufmerksam machen, obwohl sie bestenfalls Binsenweisheiten, noch schlimmer aber Unsinn verkünden, ist Legion.

Und das Beispiel lehrt, wie trivial das Rezept der Scharlatane ist: Schmücke deine Arbeit mit einem alarmierenden Begriff wie „Nazi-esque right wing ideology“ oder „fremdenfeindlich“ und schon kannst du dir der Aufmerksamkeit der Verblendeten sicher sein.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und Kollegen der TU Wien das Projekt math.space im Wiener
Museumsquartier. Sein neuestes Buch: „Die Mathematik des Daseins. Eine kurze Geschichte der
Spieltheorie“,
Hanser-Verlag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2015)

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