Die EU braucht Ankara in der Flüchtlingskrise. In Istanbul versprach Merkel daher schnellere EU-Visa und Beitrittsverhandlungen. Und Erdoğan will mehr als drei Mrd. Euro.
Istanbul. Eine neue Todesnachricht unterstrich am Sonntag beim Besuch von Angela Merkel in Istanbul die brutale Realität des Flüchtlingsdramas in der Ägäis. Während die Bundeskanzlerin am Ufer des Bosporus mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu über Wege sprach, den Flüchtlingsstrom von Syrien nach Europa einzudämmen, meldete die griechische Küstenwache, fünf Flüchtlinge – darunter drei Kinder – seien auf dem Weg aus der Türkei auf EU-Gebiet ums Leben gekommen. Laut Presseberichten flog die Kanzlerin nach Istanbul statt nach Ankara, weil sie einen Besuch in Erdoğans umstrittenem Präsidentenpalast vermeiden wollte. Ganz ohne Prunk ging es aber auch in Istanbul nicht. Erdogan empfing die Kanzlerin in seinem prächtigen Amtssitz am Bosporus. Ihren gemeinsamen Auftritt vor den Kameras absolvierten die beiden Politiker auf goldenen Sesseln sitzend, wobei Merkel nicht sehr glücklich aussah.
Zumindest öffentlich äußerte sich die Kanzlerin nicht zu Erdoğans Pomp, sondern konzentrierte sich auf das Flüchtlingsthema. Beide Politiker unterstrichen den Ernst der Lage und die Notwendigkeit, grenzübergreifende Antworten auszuarbeiten und umzusetzen. Details gab es aber nur wenige. Das zeigt vor allem eines: Die wirklichen Verhandlungen über Zugeständnisse der EU im Gegenzug für Schritte der Türkei zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms beginnen gerade erst. Dabei ist Geld ein wichtiges Thema: Drei Mrd. Euro an Finanzhilfe reiche längst nicht aus, sagt die türkische Regierung. Allenfalls als Zahlung in einer „Anfangsphase“ der geplanten Zusammenarbeit wäre die Summe annehmbar, sagt Außenminister Feridun Sinirlioğlu.
Erdoğan und Davutoğlu fordern zudem Fortschritte im EU-Beitrittsprozess sowie Reiseerleichterungen für Türken in Europa. Ankara erwarte konkrete Fortschritte in der Beitrittsfrage, bei der sich Merkel und andere EU-Spitzenpolitiker bisher sehr zugeknöpft zeigen, sagte Davutoğlu nach seinem Treffen mit Merkel. Der Premier bekräftigte zudem die türkische Forderung nach Einrichtung einer Pufferzone in Syrien. Ankara argumentiert, in einer solchen Zone könnten mehrere hunderttausend syrische Flüchtlinge untergebracht werden, was den Flüchtlingsdruck auf Europa mildern würde. Merkel und andere westliche Spitzenpolitiker sind jedoch skeptisch.
Türkei-Bericht verschoben
In jüngster Zeit hatte die EU signalisiert, dass sie die Beziehungen zur Türkei trotz vieler Beschwerden über autoritäre Tendenzen Erdogans und demokratische Rückschritte im Bewerberland am Bosporus intensivieren will. Laut Presseberichten verschob die EU aus Rücksicht auf Erdoğan den jährlichen Fortschrittsbericht zur Türkei, der offenbar sehr ungünstig für die türkische Regierung ausfällt.
Merkel sagte der Türkei am Sonntag zudem noch für dieses Jahr die Eröffnung eines neuen Verhandlungskapitels in den komatösen Beitrittsverhandlungen zu, die zwar seit 2005 laufen, aber kaum von der Stelle kommen. Bei Merkels Zusage geht es um das Kapitel 17, das die Wirtschaftspolitik behandelt. Im kommenden Jahr könnte laut Merkel über weitere Kapitel geredet werden.
Auch bei Visa-Erleichterungen für Türken bei Reisen nach Europa will sich die Bundeskanzlerin für Fortschritte einsetzen. Sie sprach von einem „beschleunigten Visaprozess“ und erinnerte daran, dass dieses Thema mit einem Bereich verknüpft ist, der bei der Flüchtlingsfrage eine wichtige Rolle spielt: Die Türkei hat grundsätzlich zugesagt, im Gegenzug für Reiseerleichterungen mit dem Ziel der völligen Visafreiheit ein sogenanntes Rückübernahmeabkommen mit der EU umzusetzen. Dieses Abkommen würde die Türkei verpflichten, alle über ihr Territorium nach Europa gelangten Flüchtlinge wieder aufzunehmen.
Türkei hofft auf Visa-Freiheit Mitte 2016
Davutoğlu sagte, er hoffe, dass Visa-Freiheit für die Türken und das Rückübernahmeabkommen bereits Mitte 2016 gleichzeitig umgesetzt werden könnten. Das wäre angesichts schwieriger Verhandlungen zwischen der Türkei und der EU in den kommenden Jahren ein Rekordtempo. Allerdings bestehen in der Türkei derzeit keine Strukturen zur Aufnahme von zusätzlich mehreren hunderttausenden Syrern, die aus Europa zurückgeschickt werden könnten. Merkel bot der Türkei zudem bilaterale Hilfe Deutschlands für die Türkei an. Einzelheiten nannte sie nicht, kündigte aber intensive Gespräche darüber an. „Dieser Prozess hat jetzt begonnen“, sagte sie. Im November will sie beim G-20-Gipfel im südtürkischen Antalya erneut mit Erdogan reden.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2015)