Disput um Zeitpunkt der Reise von Kommissionsvertretern nach Ankara.
Brüssel. Im Team Juncker hat Frans Timmermans sozusagen die Aufgabe des Spielmachers: Der polyglotte ehemalige Außenminister der Niederlande ist als erster Vizepräsident der EU-Kommission die rechte Hand von Jean-Claude Juncker und wird von ihm gern mit besonders delikaten Aufgaben betraut. Insofern war es nicht verwunderlich, dass der Kommissionschef seinen Vize beauftragte, vergangene Woche nach Ankara zu reisen, um mit der türkischen Regierung über eine Lösung der Flüchtlingskrise zu verhandeln. Doch wie mehrere Quellen der „Presse“ bestätigten, ging die Entscheidung über Timmermans' türkische Mission bei der Sitzung des Kollegiums der EU-Kommissare am 6. Oktober alles andere als reibungslos über die Bühne: Demnach hatte es während der Zusammenkunft ernsthafte Differenzen zwischen Juncker und dem für Erweiterung und Nachbarschaftspolitik zuständigen Johannes Hahn gegeben. Der österreichische Kommissar habe Bedenken geäußert, ob die Reise eines EU-Vertreters im Vorfeld der heiklen türkischen Parlamentswahl am 1. November das richtige Signal an die Regierung in Ankara sei, hat ein mit dem Verlauf der Sitzung vertrauter Insider gesagt. Woraufhin Juncker die Angelegenheit zur Chefsache erklärt und an Timmermans delegiert habe.
„Nur ein Nebendarsteller“
Im Brüsseler Kabinett von Hahn sieht man die Angelegenheit naturgemäß anders: „Aufgrund seines Portfolios spielt der Kommissar in den Gesprächen mit der Türkei eine zentrale Rolle“, hieß es gestern. Dieser Darstellung widerspricht gegenüber der „Presse“ eine Person aus Junckers innerstem Zirkel: „Das Sagen hat jetzt Timmermans, Hahn ist nur ein Nebendarsteller.“ Die Aussage muss allerdings insofern relativiert werden, als die Bildung von Arbeitsgruppen zum neuen Modus Operandi der Brüsseler Behörde gehört – neben Timmermans und Hahn sind auch der für Migrationsfragen zuständige Kommissar, Dimitris Avramopoulos, Außenbeauftragte Federica Mogherini sowie Christos Stylianides, Kommissar für humanitäre Hilfe, mit an Bord. Dass der erste Vizepräsident der EU-Kommission kraft seines Amts an der Spitze des Teams steht, ist naheliegend.
Der Disput im Kollegium (hinter vorgehaltener Hand wird davon berichtet, dass auch der deutsche Digital-Kommissar, Günther Oettinger, Zweifel geäußert hat) spiegelt die gesamteuropäische Stimmungslage wider – denn die jüngsten europäischen Kooperationsangebote in Richtung Ankara werden nicht überall goutiert. Auch innerhalb der österreichischen Regierung gibt es diesbezüglich unterschiedliche Auffassungen: Während Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) davor warnt, die Sicherung der EU-Außengrenze der Türkei zu überlassen (siehe Seite 3), hält man es im Umfeld von Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) für „wichtig und richtig“, jetzt mit Ankara zu verhandeln – vorausgesetzt, die heikle Frage der Menschenrechte in der Türkei werde dabei nicht unter den Tisch gekehrt.
Der Türkei-Aktionsplan der EU-Kommission, der von den Staats- und Regierungschefs der EU vergangene Woche gutgeheißen wurde, sieht unter anderem die finanzielle Unterstützung der Türkei (kolportiert wurde zuletzt ein Betrag von zwei bis drei Mrd. Euro) bei der Versorgung der syrischen Flüchtlinge im Land sowie ein mögliches Vorziehen der Visabefreiung für türkische Staatsbürger auf das kommende Jahr vor. Deutschlands Bundeskanzlerin, Angela Merkel, stellte zudem die Eröffnung von mehreren Kapiteln bei den seit Jahren stockenden EU-Beitrittsverhandlungen in Aussicht. Im Gegenzug soll Ankara dafür sorgen, dass nicht so viele Flüchtlinge aus Syrien nach Europa kommen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2015)