Manche Probleme können nicht einfach auf Dritte abgewälzt werden, sie müssen gelöst werden. Europa hat Verantwortung in dieser Fluchtwelle.
Da ist wieder dieses Ohnmachtsgefühl wie bereits in der Griechenland-Krise. Dieser Ärger über die EU, die allzu zögerlich agiert, und wenn, dann das Falsche tut. Ja, die Politik der europäischen Regierungen ist tatsächlich lahm und verlogen. Während die EU-Kommission bei all ihrer inneren Zerrissenheit zumindest Pläne zur Organisation und Eindämmung der Flüchtlingswelle entwickelt, hemmen sich die 28 Regierungen durch nationale Interessen seit Wochen gegenseitig. Da ist etwa Ungarn, das sich abschottet und ebenso wie die Slowakei oder Großbritannien vor der Verantwortung drückt. Da werden so wie in der Griechenland-Krise die gemeinsam aufgestellten Regeln gebrochen. Da wird plötzlich ein Milliardendeal mit der Türkei verhandelt. Jener Türkei, mit der die meisten EU-Regierungen lang keine engere Zusammenarbeit wollten. Die Widersprüchlichkeit in dieser Krise ist fast grenzenlos.
Die EU-Regierungen scheinen nicht zu erkennen, dass es längst so etwas wie eine gemeinsame Verantwortung gibt. Europa kann die Last nicht einfach auf Dritte abwälzen. Sie ist als Gemeinschaft gefordert, dieses Problem in den Griff zu bekommen, nicht, weil das eine naiv-idyllische Vorstellung von europäischer Solidarität ist, sondern, weil das schlicht kein einzelnes Land bewältigen kann. Es ist ein Trugbild, wenn Flüchtlinge ständig nur durchgewinkt werden. Denn ewig wird das nicht funktionieren. Es wird sich ein immer größerer Rückstau vor deutschen und schwedischen Grenzen bilden, wenn die Welle nicht abebbt.
Die Realität ist: Die EU wird als Gemeinschaft scheitern, wenn sie solche Herausforderungen nicht mehr bewältigt. Sie hat dann ihren Sinn nicht nur für die am stärksten betroffenen Länder wie Österreich oder Deutschland verloren, sondern auch für osteuropäische Staaten, die jahrelang von Transferzahlungen profitiert haben. Ohne geteilte Verantwortung, ohne Lastenteilung wird die EU als reine Schönwetterkonstruktion bei diesem Sturm untergehen.
Die Wahrheit ist: Es wird die europäischen Staaten sehr, sehr viel Geld kosten, diese Flüchtlingswelle abzuarbeiten. Auch dieses Geld kann nicht ein einzelner Staat aufbringen. Wenn der Strom von Menschen verringert werden soll, müssen die EU-Staaten gemeinsam die Situation in den Herkunfts- und Transitländern verbessern. Das beginnt mit einer aktiven Außenpolitik und endet mit konsequenter finanzieller Hilfe. Bisher ist freilich vom einen wie vom anderen wenig zu sehen. Die EU-Regierungen haben die Aufstockung der Mittel für die Versorgung in den Flüchtlingslagern in Syriens Nachbarländern ebenso wie einen Treuhandfonds für Afrika zwar angekündigt, dann das Geld aber nicht eingezahlt. Apropos Verlogenheit: Im österreichischen Haushalt für 2016 finden sich keine wesentlichen Mehrausgaben zur Bewältigung der Flüchtlingskrise oder zur Hilfe in den Herkunftsländern. Die Aufstockung der in den vergangenen Jahren deutlich gekürzten Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit wurde erneut verschoben.
Aber auch ein weiterer Widerspruch muss angesprochen werden: Manche Parteien und regionalen Politiker suggerieren, diese Flüchtlingswelle könne durch konsequenten Grenzschutz völlig eingedämmt werden. Das ist nur zu einem kleinen Teil richtig. Natürlich braucht es an den EU-Außengrenzen eine Auswahl, wer Flüchtling oder Wirtschaftsmigrant ist. Dafür müssen endlich die ausreichenden Rahmenbedingungen und Ressourcen geschaffen werden. Auch das kostet Millionen.
Wer aber fordert, die Grenzen für Flüchtlinge völlig zu schließen, muss sich auch der Konsequenzen bewusst sein. Zur Illustration: Am Dienstagabend kamen 4000 Flüchtlinge über die Grenze in Spielfeld nach Österreich. Wie hätte die Polizei diese Menschen aufhalten sollen? Mit Tränengas oder Waffengewalt? Ein paar Dutzend Menschen, vielleicht sogar ein paar hundert können mit humanen Mitteln gestoppt, vielleicht sogar zurückgeschickt werden, nicht aber tausende. Europa müsste für einen solchen Grenzschutz das Völkerrecht (die Flüchtlingskonvention) und gleichzeitig seine eigenen Grundwerte brechen.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2015)