Die Bertelsmann Stiftung hat die Stimmungslage in der EU sondiert. Ihr Fazit: Trotz Unzufriedenheit will die Mehrzahl der Bürger die EU-Mitgliedschaft ihres Landes nicht missen.
Brüssel. Die EU macht gerade eine Belastungsprobe durch – diese nicht unbedingt neue Erkenntnis ist der Ausgangspunkt einer europaweiten Umfrage, die im vergangenen Juli (also nach dem Abklingen der letzten Phase der Eurokrise, aber noch noch vor dem Aufflammen der Flüchtlingskrise) von der Bertelsmann Stiftung zusammen mit dem Institut Dalia Research durchgeführt wurde. Insgesamt 12.000 EU-Bürger in allen 28 Mitgliedstaaten wurden zum Istzustand der Union und ihren persönlichen Präferenzen befragt, das Ergebnis wurde am Mittwoch in Form einer Studie veröffentlicht, deren Ergebnisse vorsichtig optimistisch stimmen. Denn die Mehrzahl der Befragten schätzt die EU-Mitgliedschaft ihres Landes, will die Errungenschaften nicht missen – und ist zugleich besser über die Entwicklungen in Europa informiert als je zuvor.
Vor allem Letzteres ist eine überraschende Erkenntnis, die das Klischee des ignoranten, aber unzufriedenen EU-Bürgers widerlegt. Demnach waren knapp drei Viertel der Befragten in der Eurozone über aktuelle europapolitische Entwicklungen gut informiert, in der Gesamt-EU belief sich der Anteil auf 68 Prozent. Negativer Ausreißer in dieser Hinsicht war Großbritannien – der einzige Mitgliedstaat, dessen Bürger mehrheitlich (zu 52%) wenig Ahnung von der EU haben. Kaum überraschend ist dort auch die Zustimmungsrate zum Euro mit 14 Prozent am niedrigsten – in der Eurozone selbst wollen 63 Prozent der Befragten an der Einheitswährung festhalten. Doch an einen Austritt aus der EU denkt die Mehrzahl der Briten offenbar nicht: 59 Prozent der Befragten favorisierten den Verbleib ihres Landes in der EU.
Unnötige Agrarpolitik
Nicht der Euro, sondern die Reisefreiheit wird von EU-Bürgern als kostbarstes Gut der Union gesehen: 46 Prozent der europaweit Befragten gaben offene Grenzen als größte Errungenschaft der EU an, gefolgt vom Binnenmarkt (45%) und dem innereuropäischen Frieden (40%). Die Einheitswährung wurde von 35 Prozent auf Rang eins gereiht. Diese Präferenzen machen deutlich, dass die akute Flüchtlingskrise, die zu Grenzschließungen und -kontrollen geführt hat, das Ansehen der EU stärker beschädigen kann als das Hickhack um griechische Schulden. Dazu passt, dass die Gewährleistung von Sicherheit und Frieden von 61 Prozent der Befragten als die wichtigste Aufgabe der EU betrachtet wird. Wirtschaftswachstum hat hingegen nur für 54 Prozent der EU-Bürger oberste Priorität. Die unnötigste europäische Errungenschaft ist demnach die Gemeinsame Agrarpolitik.
Was offene Grenzen anbelangt, gibt es allerdings Differenzen zwischen Mitgliedern der Eurozone und Euro-Outsidern: Vor allem jene (mehrheitlich osteuropäischen) Nichtmitglieder sehen die Reisefreiheit als besonders wichtig an (54%), während die Begeisterung für offene Grenzen innerhalb der Währungsunion mit 42 Prozent deutlich niedriger ist. Am wenigsten wird der freie Personenverkehr übrigens in Südeuropa geschätzt – nur 31 Prozent der Befragten halten ihn für die wichtigste Errungenschaft der Union. Im krisengeschüttelten Süden liegt der Schwerpunkt hingegen eindeutig auf ökonomischen Aspekten der EU: Dort gilt das Wirtschaftswachstum als Priorität Nummer eins und die Schaffung von Arbeitsplätzen als größte Errungenschaft der Europäischen Union.
Dass die EU-Bürger mit dem Kurs der EU unzufrieden sind, ist gemäß der Studie keine Mär: 72 Prozent der Befragten finden, die EU bewege sich in die falsche Richtung. Zugleich würden nur 29 Prozent aus der EU austreten wollen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2015)