Nur das Fleisch, nicht das Skelett

Nirgends ein tragender Schacht, alles ist modular, nichts festgeschrieben: „Wohnen am Lohbach“, Innsbrucks größte, ambitio-nierteste Wohnanlage.

Wohnen am Lohbach“ ist wohl das Vorzeigeprojekt des Tiroler Bauträgers „Neue Heimat“ und der Stadt Innsbruck. Es ist die größte und sicher auch ambitionierteste neue Wohnanlage im Westen der Stadt, hier wurden tatsächlich ausgezeichnete Architekten bemüht. Das beginnt beim Städtebau von Baumschlager/Eberle, das gilt für verschiedene Sonderbauten, bei denen etwa Marte.Marte aus Vorarlberg oder Tiroler Architekten wie Helmut Reitter und die Noldins tätig waren. Und das betrifft ganz besonders die Wohnbauten, die in der ersten Bauetappe von Baumschlager/Eberle stammten, bei Lohbach II aber auch von Georg Driendl. Er konnte hier immerhin drei große Wohnhäuser realisieren, zwei mit sieben Etagen und jeweils 54 Wohnungen, eines mit sechs Etagen und 46 Wohnungen.

Ein Blick auf diese Häuser lohnt sich, weil sie eine Modifizierung der ansonsten recht unflexiblen Typologie der „Punkthäuser“ darstellen, die hier den Städtebau dominiert. Was sind Punkthäuser? Es sind annähernd würfelförmige (richtiger: quaderförmige) Gebäude, in der Regel mit einem innen liegenden Treppenhaus und rundum laufenden Gängen, von denen aus die Wohnungen erschlossen sind. Solche Häuser sind sehr kompakt organisiert, der Anteil der Außenfassaden ist minimiert, dadurch sind sie energetisch besonders interessant.

Die Ersten, die relativ konsequent vorgeführt haben, was sich mit dieser Typologie anfangen lässt, waren Baumschlager/Eberle.Bei Lohbach I konnten sie das in unglaublicher Dichte zeigen. Davon ist man bei Lohbach II wieder abgekommen. Ein bisschen größere Distanz hat Not getan, umso mehr, als sich mit Punkthäusern ja keine tradierten städtebaulichen Situationen formulierenlassen. Es geht immer nur um Abstände zwischen den Häusern, und wie die gestaltet sind,das hängt vom Einsehen des Bauträgers und der Qualität des Landschaftsplaners ab.

Driendl hat etwas Interessantes mit seinen drei „Punkthäusern“ gemacht: Er hat sie durchgeschnitten. Das heißt, in der Mitte liegt ein gewaltiger Luftraum – von oben und von den Seiten her natürlich belichtet –, in dem sich die Erschließung befindet. Und diese Erschließung ist – sagen wir es mit den Worten des Architekten: „unverblümt“. Theoretisch kann man über geradläufige Treppen hinaufspazieren und über einzelne Brücken zu den Wohnungstüren gelangen. Das heißt, jeder hat seinen eigenen, definierten Zugang zur Wohnung, der auch entsprechend individuell genutzt wird: Da steht von den schmutzigen Schuhen über die Topfpflanze bis zur Bierkiste allerlei herum. Das macht die Situation aber sympathisch lebendig. Und es relativiert die Härte der Materialien – Glas, Beton, Terrazzo. Für die räumliche Wirkung dieser gewaltigen Halle ist aber vor allem wichtig, dass sie in der Mitte fast um zwei Meter breiter ist als an den Fassaden. Sie hat also die Form eines flachen Ovals. Das spielt nicht nur für den atmosphärischen Raumeindruck eine Rolle, es ist ganz pragmatisch bedingt. Der Lift ist in der Mitte, an der breitesten Stelle positioniert – die Bewohner kommen dadurch nicht in irgendeiner schmalen Gangsituation an.

Es ist überhaupt ein höchst rationales Konzept, das Driendl bei seinen Wohnhäusern umsetzt. Gebaut sind sie im Grund wie Industriebauten – also in Skelettbauweise, mit Stützen, ganz modular. In den Wohnungen selbst ist fast nichts festgeschrieben, es gibt keinen tragenden Schacht. Das lässt jede Lösung zu. Da kann ohne Weiteres ein Zimmer der nächsten Wohnung zugeschlagen werden, es kann mit geringem Aufwand umgebaut werden, es können Wände einfach eingezogen oder auch weggelassen werden. Von dieser letzten Möglichkeit machen die Bewohner allerdings in den seltensten Fällen Gebrauch.

Dafür gibt es einen Punkt, der der Reflexion bedarf: die leidige Frage der Energie. Wir sind heutzutage unheimlich energiebewusst. Und auch diese Häuser entsprechen mit ihren 40 Kilowattstunden dem Niedrigenergiestatus. Sie verfügen über Sonnenkollektoren für die Warmwasserbereitung, es wurde auch sonst nichts vernachlässigt. Nur:Inzwischen haben die Ansprüche an den Energiehaushalt ein Maß erreicht, das unter 20 Kilowattstunden liegt. Aber das lässt sich natürlich nur mit sehr aufwendigen Technologien erreichen, die serviceanfällig sind und Betriebskosten verursachen.

Die Frage ist, ob das im Wohnbau wirklich Sinn hat. Ist der Wohnbau im globalen Energieverbrauch nicht jener Faktor, der am wenigsten bedeutet? Und: Möchten Sie gern in einer Wohnung leben, deren Energiekonzept nur funktioniert, wenn alle Fenster geschlossen sind (und bleiben)? Es ist schwierig. Niemand möchte als „Umweltsünder“ dastehen. Trotzdem sollten wir uns fragen, ob wir nicht am falschen Ende der Energiekette investieren. Ein einziger, klitzekleiner Fehler in irgendeiner Industrieanlage kostet vermutlich so viel Energie, wie selbst mit anspruchsvollsten Mitteln und über Jahre hinweg im Wohnbau nicht eingespart werden kann.

Abgesehen davon ist Driendl dennoch etwas gelungen, das man als kleinen innovativen Schub bezeichnen könnte. Er hat alle Installationen in die Erschließungshalle verlegt, das heißt, alle Kabelschächte, und was es da sonst noch braucht, sind von außen zugänglich. Das ist wirklich ein Gewinn, weil die Bewohner im Fall von Servicearbeiten unbelästigt bleiben.

Im Übrigen hat Driendl alles gemacht, was man einem guten Wohnbauer abverlangen muss. Seine Balkonzone ist 2,20 Meter tief, also bestens nutzbar. Dass die Anzahl der einfachen, verschiebbaren Sonnenschutzelemente – ein Rahmen mit einer textilen Bespannung – aus Kostengründen reduziert wurde, ist ein Jammer. Jetzt lässt sich die Intimität der vorgelagerten Freiräume zu den Wohnungen nur partiell herstellen. Eines hat der Architekt allerdings schon durchgezogen: Die gläsernen Balkonbrüstungen sind nicht transparent, sondern transluzent. Einen gewissen Sichtschutz gibtes also überall.

Bilanzierend muss man sich wahrscheinlich eines klar machen: Im Wohnbau ist kein architektonischer Blumentopf zu gewinnen. Er kann immer nur das Fleisch sein, das Skelett heutiger Baukunst besteht aus anderen Aufgaben. Anders ausgedrückt: Im Wohnbau lässt sich so leicht nichts erfinden, man muss froh sein, wenn man das Zahnrad der Mühle zwischen allen Beteiligten millimeterweit vorwärtsbringt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2009)

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