Österreichs Industrie: Sag mir, wo die Schlote sind

Rauchende Schlote
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Österreich hat, wovon andere träumen: einen hohen Anteil der Industrie als Rückgrat der Wirtschaft. Aber in die Erfolgsstory mischen sich Misstöne. Das liegt nicht nur an schlechter Politik.

Im Jahr 1987 schrieb der deutsche „Spiegel“ einen düsteren Report über einen „Trümmerhaufen“: Österreichs verstaatlichte Industrie. Es klang bejammernswert wie in einem Dickens-Roman: Arbeitslose Stahlkocher in Kapfenberg und Knittelfeld, die ihre Eigenheime in der sterbenden Region zu Spottpreisen verkaufen mussten und nun in tristen Baracken vor sich hin brüten. Eine bedrohliche Smogglocke aus Schwefelsäure über Linz, der bröckelnden Hochburg der Hochöfen. Dazu verzweifelte Manager und ratlose Politiker. Wohl kein Leser hätte erraten, worum man schon zwanzig Jahre später das kleine Österreich beneiden würde: nicht um Konditorwaren und Walzerklänge, sondern ausgerechnet um seine starke und krisenresistente Industrie. Ein Sektor, den damals niemand mehr wollte. Der Zeitgeist postulierte: weg von den rauchenden Schloten, hinein in die glorreiche Zukunft der sauberen, sicheren Dienstleistungsgesellschaft!

Doch die Zeiten und ihr Geist haben sich geändert. Seit Ausbruch der Krise gilt ein hoher Industrieanteil wieder als volkswirtschaftliche Tugend, und Österreich spielt hier mit Deutschland in der allerersten Division. Dabei ist der Anteil nach der üblichen Definition auch hierzulande dramatisch gefallen, auf unter ein Fünftel der Wirtschaftsleistung (siehe Grafik). Bei der Zahl der im Sektor Beschäftigten zeigt sich der Rückgang noch stärker. Aber die Statistik trügt. Denn im verarbeitenden Gewerbe wächst die Produktivität durch den technologischen Fortschritt viel stärker als im Servicebereich. Deshalb braucht man hier nicht nur weniger Personal. Auch die Preise steigen weniger stark als bei den Dienstleistungen, obwohl sich die Qualität laufend verbessert. Das Wifo verwendet deshalb neben der üblichen „nominellen“ Rechnung ein „reales“ Mengenkonzept. Danach ist der Industrieanteil in Österreich seit den Sechzigerjahren sogar stetig gestiegen, von 14 auf 18 Prozent – anders als in den meisten anderen hoch entwickelten Volkswirtschaften. Dass die Industrie in der ersten Welt tendenziell an Bedeutung verliert, hat aber noch einen anderen natürlichen Grund: Mit zunehmendem Wohlstand sind viele materiellen Bedürfnisse bald gestillt. Eine zweite Waschmaschine braucht niemand. Die Nachfrage nach Dienstleistungen, von der Reise bis zum Yogakurs, scheint viel eher unersättlich. In dieser Hinsicht hatte das Kalkül mit der Dienstleistungsgesellschaft durchaus seine Logik. Aber zwei Entwicklungen hatte man nicht auf dem Schirm: dass die Nachfrage in Europa durch eine schrumpfende Bevölkerung im Ganzen zurückgeht. Und dass sich durch die Globalisierung ferne Märkte eröffnen, in denen die Menschen noch ganz gierig nach Industriegütern sind.

Flaggschiffe fehlen. Weniger nach Nahrungsmitteln, die in Frankreich und Südeuropa einen großen Teil des verarbeitenden Gewerbes ausmachen. Sondern vor allem nach solchen, die etwa Chinesen nicht so leicht herstellen können, wie Autos und Maschinen. Gerade auf diese Produkte und ihre Komponenten haben sich Deutschland und Österreich schon lange spezialisiert. Damit setzen sie treu auf einen Sektor, der durch technischen Fortschritt auch in stagnierenden Heimmärkten noch Potenzial hat. Dieser „Vorsprung durch Technik“, wie ein alter Audi-Slogan hieß, ist von anderen EU-Ländern kaum zu kopieren.

Dennoch ziehen über Österreichs Industrie wieder dunklere Wolken auf: Die Produktivität sinkt, Investitionen bleiben aus, das Land fällt in der Wettbewerbsfähigkeit zurück – zuletzt von Platz 21 auf 23 in der Rangliste des Weltwirtschaftsforums (siehe Grafik). Für dieses Ranking werden Wirtschaftstreibende befragt, und ihre Diagnose ist eindeutig: Die Steuern sind zu hoch, der Arbeitsmarkt zu starr reguliert und die Verwaltung zu bürokratisch. Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung und Medien werden nicht müde, den Reformstau zu beklagen. Zu Recht, denn die Zeit drängt. Aber dass der „Österreich-Bonus“ dahinschmilzt wie ein Alpengletscher im Klimawandel, liegt auch an Strukturschwächen im Sektor selbst.

Sicher: Die Privatisierung der Verstaatlichten war ein voller Erfolg. Aus dem unproduktiven Moloch, der am Markt vorbeiproduzierte, entstanden wie der Phönix aus der Asche hoch kompetitive Unternehmen, allen voran die Voest als Weltmarktführer für Spezialstahl. Vor allem aber blühten im Windschatten kleinere Firmen auf, die oft noch im Familienbesitz sind. Das geschah leise und diskret. Die Expertise fließt meist in andere Endprodukte ein, das Geschäft ist „Business to Business“. Damit bleiben Firmen wie Engel oder Rosenbauer, die in ihrer Nische Weltspitze sind, der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt. Vor allem aber stützt sich die heimische Wirtschaft, viel stärker noch als die deutsche, auf den Mittelstand. Es fehlen die Flaggschiffe, die schon lange auf allen Weltmärkten navigieren. Auf sie kann nicht nur der große deutsche Nachbar, sondern auch die kleine Schweiz zählen – man denke an Nestlé, Roche oder Novartis. Die Lücke hierzulande hat mit dem Krieg und seinen Folgen zu tun, der Zerstörung der Kapazitäten und der Verstaatlichung danach, um den verbliebenen Rest vor dem Zugriff der Sowjets zu retten. Unter diesen Bedingungen entwickelte sich kein kräftiger Kapitalmarkt – ein Mangel, der bis heute nicht behoben ist, wie das geringe Volumen des Aktienhandels zeigt. Am Börsenplatz Zürich wird an einem einzigen Handelstag fast so viel umgesetzt wie in Wien in einem ganzen Monat. Dazu kommt hierzulande das Fehlen von Wagniskapital.

Prozess statt Produkt.
Womit das Stichwort gefallen ist: Ohne Kapital kein Wagnis. Nur große Unternehmen oder Investoren tragen das Risiko von ganz neuen Produkten, deren Einführung viel kostet und deren Erfolg ungewiss ist. Die Folge: „Unsere Industrie ist sehr gut in der Prozessinnovation, aber schwach in der Produktinnovation“, stellt Christian Helmenstein fest, der Chefökonom der Industriellenvereinigung. Prozessinnovation ist das schlaue Kombinieren von Basistechnologien, die es anderswo schon gibt – wenn etwa Doppelmayr tolle Lifte baut, ohne das Tragseil und die Antriebe selbst erfinden zu müssen. Viel riskanter ist eigentliche Produktinnovation.Freilich ließe sich das Risiko streuen, durch Diversifikation. Aber auch hier gibt es starke Defizite, wie das IW (Institut der Deutschen Wirtschaft) Köln jüngst für Österreich diagnostiziert hat. Bleibt noch die Möglichkeit, durch Zusammenschluss zu wachsen, was aber nicht gern gesehen wird. Zu Unrecht, findet Helmenstein: „Fusionen sind nichts Schlechtes. Größer bedeutet effizienter. Große Firmen können Herausforderungen viel leichter stemmen. Wir brauchen eine andere Einstellung zum Wachsen!“

Tatsächlich hat die heimische Industrie einen anderen, anfänglich sehr erfolgreichen Weg eingeschlagen, um ihre fehlende Größe und mangelnde Präsenz auf den Weltmärkten zu kompensieren: die „kleine Internationalisierung“ in Richtung Osteuropa. „Alle fünf Jahre kam ein neuer Markt dazu. Das ist zu leicht gegangen“, zieht Wifo-Chef Karl Aiginger kritisch Bilanz. Denn nun komme diese Expansion „an Grenzen, geografische wie politische“. In Russland und der Ukraine bremsen Krise, Krieg und Sanktionen. Auch der Schwarzmeerraum ist „verstopft“. Ein Symbol dafür ist das gescheiterte Nabucco-Pipelineprojekt der OMV.

Mehr Forschung.
Nun räche sich, dass die Unternehmen „sich zu stark auf die Ausweitung nach Osten verlassen haben“. Dabei kam zu kurz, „die Wertschöpfung in angestammten Bereichen zu erhöhen“, etwa durch die schon erwähnte „intelligente Diversifikation“. Die deutschen und Schweizer Firmen, die von der Ostöffnung weniger profitiert haben, waren da schneller und besser. Damit haben sie auch ihre Stellung auf jenen fernen Weltmärkten ausgebaut, die den Österreichern immer noch fremd sind: China, Indien, Südamerika. „Wir sind wesentlich weniger internationalisiert“, konstatiert auch Helmenstein.Damit fehlen nun Wachstumspotenziale dort, wo das Wachstum noch stark ist. Auch deshalb investieren die Industriebetriebe wenig. Sie ersetzen zwar Maschinen, oft auch, um rationeller herstellen zu können. Aber Erweiterungsinvestitionen, um neue Produkte zu lancieren oder Märkte zu erobern, planen nur 20 Prozent – im Vergleich zu 35 Prozent in Deutschland. Solange es dort gut läuft, können die vielen Zulieferer von einer „Huckepack“-Strategie profitieren. Aber das heißt, auf ein einziges Pferd zu setzen, dessen Zügel man nicht selbst in der Hand hat. Helmensteins Fazit: „Es wird in den nächsten Jahren entscheidend sein, stärker in die Fernmärkte zu gehen, um unabhängiger von Deutschland zu werden.“

Eine andere Hoffnung mögen sich Arbeitnehmer machen: dass Firmen ihre Produktionen aus Osteuropa nach Österreich zurückholen und sich dadurch die Lage auf dem Arbeitsmarkt entspannt. Anlass für solche Spekulationen geben Berichte darüber, dass sich Ähnliches in den USA abspielt: Weil das Lohnniveau in China immer weiter steigt, bringen amerikanische Konzerne reumütig ihre Werkbänke in die Heimat zurück. Aber schon bald nach der viel diskutierten BCG-Studie wurde klar: Es geht wohl eher um „anekdotische“ Fälle. Tatsächlich haben, wie man bei A.T. Kearney ermittelt hat, bis Ende 2014 nur 2,8 Prozent aller US-Unternehmen mit Betrieben im Ausland ein „Reshoring“ praktiziert. Also ziemlich wenige. Unabhängig davon wäre die Situation bei Österreich und Osteuropa auch ganz anders. Auf ein „Coming back“ ist somit nicht zu hoffen.

Eine neue Blüte für die heimische Industrie muss von echtem Wachstum kommen. In keinem anderen Sektor spielt dabei technologischer Fortschritt eine solche Rolle. Und hier geben die Zahlen sehr wohl Anlass zur Hoffnung: Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung steigen heuer erstmals auf über drei Prozent des BIP. Damit rückt Österreich langsam zu Europas Spitze, den skandinavischen Ländern, auf. Zwei Drittel der Mittel trägt dabei die private Wirtschaft bei. Zum Schluss also noch ein gutes Omen für die Zukunft von Österreichs Industrie.

Das Ziel aus Brüssel

20 Prozent Industrieanteil bis 2020 hat die EU-Kommission als Ziel ausgegeben. Gerechnet ist dieser Anteil inklusive Bergbau und Energie, aber ohne Bauwirtschaft.

Der EU-Schnitt 2014 lag nach dieser Abgrenzung bei 17 Prozent. Österreich hat das Ziel aus Brüssel mit 19,7 Prozent de facto bereits erreicht.

Hinweis: In der Grafik rechts oben wird der Industrieanteil nach der Wifo-Abgrenzung ohne Bergbau und Energie angezeigt und liegt damit um drei bis vier Prozentpunkte darunter.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2015)

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