Die Republik betet eine leere Monstranz an

Der alte Glücksbringer hat ausgedient. Die Neutralität bietet keinen Schutz und ergibt schon lang keinen Sinn mehr. Spätestens, wenn eine Europaarmee entsteht, muss Österreich Farbe bekennen.

Die Neutralität ist wie ein Talisman, ein vierblättriges Kleeblatt, das die Österreicher dankbar in Ehren halten, weil sie glauben, dass es in den vergangenen 60 Jahren Glück gebracht hat. Und tatsächlich steht ja die Neutralität am Beginn einer Erfolgsgeschichte. Sie war implizite (und sowjetische) Bedingung für den ein paar Monate später unterzeichneten Staatsvertrag, der Österreich 1955 die Freiheit und das Ende der Besatzung brachte. Danach ging es – lange Zeit – bergauf. Insofern ist es folgerichtig, dass der Nationalfeiertag auf den 26. Oktober fällt, den Tag, an dem das Parlament das Neutralitätsgesetz verabschiedet hat. Der Rest ist Folklore.

Wirklich geschützt hat die Neutralität Österreich nie. Die Aufmarschpläne lagen in den Schubladen des Warschauer Pakts. Wenn der Kalte Krieg heiß geworden wäre, hätten die Sowjettruppen die Neutralität nicht respektiert. Das Prinzip Hoffnung bestimmt bis heute die österreichische Sicherheitspolitik. Dass das Bundesheer in der Lage ist, die Neutralität „mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu verteidigen“, wie es im Verfassungsgesetz so schön heißt, glauben nicht einmal die eifrigsten Patrioten.

Obsolet war die Neutralität schon nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des Ost-West-Konflikts. Sie aufzugeben wäre anlässlich des Beitritts zur EU ein Gebot der Ehrlichkeit gewesen. Denn damals verpflichtete sich Österreich zur Teilnahme an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Doch die damalige Regierung zog es vor, völkerrechtliche Dehnungsübungen zu betreiben. Angesichts der Balkankriege flackerte in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre, angetrieben von Wolfgang Schüssel, kurz eine Debatte über einen Beitritt zur Nato auf. Doch seither traut sich keiner mehr, das N-Wort auch nur in den Mund zu nehmen. Für Sicherheit, so glaubt man in lauschiger und kostengünstiger Trittbrettfahrer-Mentalität, sorgen ohnehin die benachbarten Nato-Länder. Da lohnt es sich innenpolitisch nicht, die bequeme und populäre Lebenslüge der Neutralität anzutasten.

Man kann natürlich fest beten, dass alles gut geht, nichts geschieht und die Magie der Neutralität weiterhin alles Böse abhält von unserer kleinen Republik. Doch das Umfeld ist zuletzt deutlich ungemütlicher geworden. Russland hat zum ersten Mal seit 1945 sein Militär eingesetzt, um Grenzen in Europa zu verschieben, die Krim zu annektieren und die Ostukraine zu destabilisieren. Die baltischen Ex-Sowjetrepubliken wären möglicherweise die Nächsten gewesen, wenn sie nicht unter dem Schirm der Nato stünden. Auch das Chaos in Nahost ist bis nach Europa zu spüren. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker denkt zu Recht über eine Europaarmee nach. Die EU muss handlungsfähig werden, wenn sie ihre außenpolitischen Interessen wahren will. Spätestens dann wird Österreich Farbe bekennen müssen: Die Mitgliedschaft in einer EU-Armee werden auch die begabtesten völkerrechtlichen Sophisten nicht mehr mit der Neutralität in Einklang bringen können.

Kurz füllte Hülle. Schon jetzt ist die Neutralität zu einer leeren Monstranz geschrumpft. Auch diese Hülle kann man mit Leben erfüllen. Außenminister Sebastian Kurz hat dies beeindruckend bewiesen, indem er als Eventmanager der Weltpolitik die Iran-Verhandlungen und zuletzt den Syrien-Gipfel nach Wien lotste. Inhaltlich hat Österreich genau nichts beizutragen, doch solche Veranstaltungen bringen dem Land Ansehen und einen hohen Werbeeffekt. Es wirft auch außenpolitischen Nutzen ab, am Rande solcher Treffen bilaterale Gespräche mit den wichtigsten diplomatischen Akteuren der Welt führen zu können. Insofern kann die Neutralität bei entsprechendem Einsatz außenpolitischen Mehrwert erzeugen.

Dennoch sollten sich die Spitzen der Republik ernsthaft Gedanken machen über die Zukunft der Neutralität. Denn der alte Talisman hat keine Schutzfunktion und ergibt in einer zusammenrückenden EU, die eng mit der Nato kooperiert, keinen Sinn mehr.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2015)

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