Seltener, aber immer noch empfängt das Jewish Welcome Service Holocaust-Überlebende in Wien. Für viele bedeutet das vor allem: überlieferte Geschichten aus der Zeit vor dem Krieg.
„Bin mit renee kind und sandor aus konzentrationslager zurück von großpapa tante emma keine spur.“ Inmitten von weichgezeichneten, schwarz-weiß-beigen Familienfotos klebt plötzlich dieses nüchterne Telegramm: das Schicksal einer Wiener Familie, von Vera Jitrics Onkel zeichensparend zusammengefasst. Vera Jitric sitzt im Hotel Stefanie in der Leopoldstadt, dem ältesten Hotel Wiens, und zeigt ihr digital erstelltes Fotobuch der Erinnerungen. Ihre Tochter Pnina hat es ihr gerade geschenkt: aus Anlass der gemeinsamen Reise zu den Wurzeln der Familie. Renée war Vera Jitrics Mutter. Das Kind, das war sie. Geboren im KZ Kleinschönau, einem Außenlager des KZ Groß-Rosen.
Vera Jitric, dunkle Haare, schwarze Weste, Jeans, ist Teil einer etwa 60-köpfigen Gruppe aus den USA und Israel, Uruguay und Belgien, die das Jewish Welcome Service eingeladen hat. Diese Besuche werden seltener. Letztes Jahr seien es noch zwei Gruppen gewesen, sagt Milli Segal vom Welcome Service. Heuer ist es nur die eine.
Ein nüchternes oder vielleicht besonders kritisches Österreichbild? Äußert keine der befragten Überlebenden im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Sie habe eine romantische Vorstellung von diesem Land, wird eine der Befragten später sagen. Politische Entwicklungen hat keine der Emigrantinnen, die heute alle in den USA leben, verfolgt. Vera Jitric, Tochter eines Chemikers, dessen Familie in Wien eine Fabrik besaß, kultiviert überhaupt ein entschlossenes Desinteresse an Politik. Vom amerikanischen Präsidenten hält sie wenig, den österreichischen kannte sie nicht. Heinz Fischer, der die Besucher am Mittwoch empfangen hat, sei aber „lovely“, seine Frau „a delight“.
Ihre Jugend hat Jitric in Bolivien, Uruguay, Argentinien, Peru verbracht. Erstmals wieder nach Wien kam sie als frisch verheiratete, schwangere Frau, 1968 auf dem Weg nach Israel. An die Pension auf der Mariahilfer Straße kann sie sich erinnern, an die Geräte zur Fußmassage, die damals offenbar en vogue waren, an das Treiben im Prater „und die großen Gurken, die man überall um einen Schilling kaufen konnte“.
Little Europe. „Meine Mutter spricht ständig von Wien als einem glücklichen, wundervollen Ort“, sagt ihre Tochter Pnina. So, wie diese es wiederum von ihrer Mutter gehört habe. Vor Kurzem habe sie, Pnina, „Woman in Gold“ über die Restitution der „Goldenen Adele“ gesehen – und sei erstaunt gewesen. „Ich wusste nicht, dass es über Wien negative Geschichten zu erzählen gibt.“ Von kollektiver Schuld hält sie nichts. „Ich glaube daran, dass man Menschen danach beurteilen sollte, wer sie sind. Die heutige Generation kann nichts für das, was damals passiert ist.“
Vera Sasson, die zweite Vera in der Gruppe, wurde 1938 als Tochter eines Kürschners namens Fuchs geboren. „Meschuggener Fuchs“ nannte ihn die Familie, als er erklärte, er wolle auswandern. Seit Jahren hatte der kluge Mann Geld ins Ausland transferiert. „Er hat für 17 Familienmitglieder die Reise nach Shanghai bezahlt“, erzählt Sasson. Die Lebensbedingungen seien primitiv gewesen, die Menschen unterernährt, und sie seien an Krankheiten gestorben, „die sie nicht einmal aussprechen konnten“. Trotzdem hätten sie es geschafft, „ein Little Europe“ zu errichten, mit Restaurants, Oper und gepflegter deutsch-österreichischer Rivalität.
Bis heute schwärmt Sasson von Krautfleckerln, auch wenn sie Wien erst 1961 wieder besucht hat. „Ich romantisiere all die Dinge, die meine Eltern vor dem Krieg hier hatten“, sagt sie. „Die Musik, das Gebäck, die Wochenenden in den Bergen.“ Am Cobenzl habe sie ein beinah spirituelles Erlebnis gehabt. „Ich hatte Tränen in den Augen. Es war, als würden meine Eltern neben mir stehen.“ Die Angst, die sie einst empfunden haben mussten – sie hätten darüber nicht gesprochen. „Sie haben sich dafür entschieden, sich an die schönen Geschichten zu erinnern.“
Dass auf ihren vergangenen Besuchen die Wiener „nicht gerade die freundlichsten“ gewesen seien, sagt sie nur leise. Dass sie in Österreich Obdachlose gesehen habe, habe sie aber überrascht – und schockiert. Wie das kleine Österreich die vielen Flüchtlinge aufnehmen will, ist ihr nicht ganz klar. „Meine Sorge ist: Was ist in sechs Monaten oder ein, zwei Jahren, wenn die bösen Gefühle kommen? Wenn man denkt, dass sie Jobs wegnehmen oder sich doch nicht integrieren?“ Wichtig sei vor allem die Frage der Motivation, danach, warum man Menschen aufnehme. „Geschieht es aus einem Schuldgefühl heraus? Dann ist es nicht ehrlich. Es sollte aus Mitgefühl geschehen.“
Mitgefühl sei nötig, findet auch Elizabeth Miller, geborene Ehrlich. Die zierliche Dame ist angereist, um ihren 90. Geburtstag zu feiern. 1925 wurde sie hier geboren, zwölf war sie, als sie es „in letzter Minute“ außer Landes geschafft haben. Als Chemiker war ihr Vater im Visier der Nazis. Ein Freund arbeitete in der Verwaltung, der Haftbefehl wanderte über seinen Tisch. „Er kam zu unserem Haus und warnte uns, morgen Früh müssten wir verschwunden sein.“
Jahrzehntelang hat Miller im New Yorker Schulsystem gearbeitet. „Amerika“, sagt sie, „hat von seinen Immigranten immer profitiert.“ Der Schlüssel dazu sei Bildung. „Das Schulsystem ist der große Gleichmacher.“ Dort würden Kinder lernen, sich einzuleben und, im Fall der Syrer, „hoffentlich europäische Werte zu akzeptieren“. Dabei helfen könnte auch, den Neuankömmlingen „möglichst früh die einfachen Dinge des Lebens zu erklären“, glaubt ihr Sohn Steve, der in Los Angeles lang als Texter für Paramount gearbeitet hat – und der gerade als Tourist erlebt, dass es gar nicht so leicht ist, sich zurechtzufinden, „obwohl ich immerhin das gleiche Alphabet verwende.“
Konferenzstadt. Und ja, schön sei die Stadt. „Ich wundere mich, warum Wien in Amerika nicht bekannter ist. Dort geht es immer nur um Paris“, sagt Elizabeth Miller. Weil Wien erst richtig Bedeutung erlangt habe, als sich die USA schon von Europa abgewandt hatten, glaubt Steve. Von Wien höre man in den US-Nachrichten nur, wenn eine Konferenz stattfindet, zum Iran oder, wie soeben, zu Syrien. Immerhin: In der kalifornischen Kleinstadt Thousand Oaks, in der Elizabeth Miller heute lebt, finde immer ein Neujahrskonzert statt. Komplett mit Radetzkymarsch.
Erst viel später an diesem Abend, off the records, spricht jemand aus der Gruppe Zweifel an. Wie sich das offizielle Österreich bemühe, sei bewundernswert. „Aber wer weiß, wie es mit einer anderen Regierung ist?“ So ein Wechsel, das könne schnell gehen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2015)