Viennale: Die artenreiche Kino-Menagerie

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Sie sind die unberechenbarsten „Schauspieler“ und zugleich die ultimative Projektionsfläche: Die Viennale-Retrospektive „Animals“ widmet sich den Tieren im Film.

Es gibt auf der Welt keinen größeren Zoo als die Kinogeschichte. Seit der Geburt des Mediums wächst dessen Menagerie unaufhörlich. Der Mensch kann sich am (Film-)Tier nicht sattsehen, und das nicht nur, weil es in seiner fremdartigen Ähnlichkeit zu ihm die ultimative Projektionsfläche darstellt. Auch die Spannungsverhältnisse zwischen Chaos und Ordnung, Natur und Kultur, Freiheit und (gesellschaftlicher) Gefangenschaft treten am deutlichsten hervor, wenn die Leinwand zur Manege wird. Außerdem: Wo sonst kann man dem Löwen tief ins weit aufgerissene Maul schauen, ohne gefressen zu werden? Im Zuge der diesjährigen Viennale-Retrospektive „Animals“ wirft das Österreichische Filmmuseum einen weit gefassten Facettenblick auf Darstellungen des Tierischen.

Anfangs war die Tierneugier der Kamera noch von Rationalismus geprägt: Der Filmpionier Étienne-Jules Marey untersuchte 1894 mit chronofotografischen Bewegungsstudien, warum Katzen immer auf ihren Tatzen landen. Das erste „Cat Video“ stand also im Dienste der Wissenschaft, doch es dauerte nicht lang, bis das Kino die Tierwelt nach Vorbild von Zirkus und Jahrmarkt für sein modernes Massenunterhaltungsprogramm einspannte: Boxende Kängurus und tanzende Wauwaus, Stummfilmstars tollten todesmutig mit Pumas und Tigern herum (was nicht immer gut ausging). Gegenpol dieser beachtlichen Dressurleistungen sind die sogenannten Zufallshunde, die zuweilen durch frühe Dokumentaraufnahmen huschen: Hier macht sich bereits das Unberechenbare an der Laufbildkreatur vorstellig. Inzwischen gilt in weiten Teilen des kommerziellen Filmgeschäfts die Faustregel, den Dreh mit Tieren, Kindern und alten Leuten nach Möglichkeit zu unterlassen: Alle drei sind Keimzellen des Kontrollverlusts. Ironischerweise hatten Filmtheoretiker wie Béla Balázs oder André Bazin aus ebendiesem Grund ein Herz für Tiere – sie schätzten ihren Mangel an Kamerabewusstsein, der sie zu idealen „Schauspielern“ und Stellvertretern ungestellter Wirklichkeit machte.

Herrschaft der Ameisen

Doch diese Wirklichkeit kann ebenso schrecklich wie schön sein. Das wusste Alfred Hitchcock, als er seine „Vögel“ auf Tippi Hedren hetzte, kreischende Botschafter einer gnadenlosen, weil indifferenten Natur. Noch unscheinbarer ist die Bedrohung in „Phase IV“, dem einzigen, außergewöhnlichen Spielfilm des legendären Vorspanndesigners Saul Bass: Dort schließen sich Ameisenkolonien zusammen, um die Menschheit ihrer Schwarmintelligenz einzuverleiben. Angesichts der Grausamkeit der selbst ernannten Schöpfungskrone gegenüber Nahrungskettenverlierern – dokumentiert in Georges Franjus Schlachthofsonett „Le Sang des bêtes“ oder dem Tierrechtsempörungsschrei „The Animals Film“ – regen solche Visionen tierischer Vendetta aber auch an, das Machtverhältnis zwischen Mensch und Kreatur zu überdenken (ehe der Spieß umgedreht wird wie in „Planet of the Apes“).

Wie auf der Insel des Dr. Moreau wimmelt es im Kino von innerlich zerrissenen Hybridwesen. Der britische Gelehrte Samuel Johnson schrieb: „Wer eine Bestie aus sich macht, verliert den Schmerz, ein Mensch zu sein.“ Zivilisation hat ihren Preis – François Truffauts Drama „L'enfant sauvage“ ist das Protokoll einer Wolfsjungen-Domestizierung, die den Wert der Wildheit nie vergisst. Auch der Mutationsprozess in David Cronenbergs Sci-Fi-Großtat „The Fly“, in der ein Forscher mit einer Fliege zu „neuem Fleisch“ verschmilzt, wirkt nicht gerade angenehm (oder appetitlich). Das iranische Meisterwerk „Gaav“ inszeniert indes die herzzerreißende Kuhwerdung eines Mannes als Reaktion auf den Tod seines geliebten Paarhufers. Zur Vermenschlichung des Animalischen kommt es vor allem im Kinder- und Animationsfilm: Eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür bietet das unterschätzte „Schweinchen Babe“-Sequel von „Mad Max“-Regisseur George Miller: Ein kunstvoll choreografiertes Abenteuer voller sprachbegabter Biester in der großen Stadt, aufgeladen mit überraschend düsterer Sozialkritik.

Tiere als Filmemacher

Es wird stets neue Perspektiven auf die Kinozoobewohner geben, nur ihre Perspektive auf uns bleibt unerschlossen – den spannenden Versuch eines „posthumanistischen“ Blicks wagt die experimentelle Fischfangdoku „Leviathan“. Aber vielleicht sollten Tiere von Filmkünstlern einfach als gleichberechtigte Schöpfergeister anerkannt werden, so wie es Jeff Scher in einer Anmerkung zu seiner ulkigen Terrier-Miniatur „Sid“ macht: „Der Hund hatte die Idee, ich war nur Kameramann.“ Die Schau „Animals“ läuft noch bis Ende November.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2015)

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