Enttäuschung hält viele Ukrainer von den Wahlurnen fern

People fill out ballots in booths during a regional election at a polling station in Kiev
People fill out ballots in booths during a regional election at a polling station in Kiev(c) REUTERS (GLEB GARANICH)
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In Kiew gab nur die Hälfte der Wahlberechtigten die Stimme ab. Krieg und schwere Lebensbedingungen setzen den Menschen zu.

Als Tatjana Tschaika, Kandidatin für den Kiewer Stadtrat von der Partei Spilna Sprawa, von Tür zu Tür ging, schallte es ihr nicht nur einmal entgegen: „Ihr seid alle gleich, ihr seid alle Diebe.“

Die 35-Jährige, die sich für die bessere Ausstattung von Schulen und Kindergärten einsetzt, fragte sich, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, in die Politik zu gehen. „Die Wähler sind enttäuscht“, sagt Tschaika. Dies zeige sich auch in der geringen Beteiligung an den Lokalwahlen am Sonntag: Die unzähligen Parteien, die Kiew in den vergangenen Wochen mit Plakaten zukleisterten und in Info-Zelten Wahlwerbung verteilten, haben die Rechnung ohne die Wähler gemacht. Laut Angaben der Zentralen Wahlkommission nutzten nur knapp 47 Prozent der Wahlberechtigten die Chance zur Stimmabgabe.

Die Lokalwahl, mit der Regierung und Opposition ihre Machtbasis austesten wollten, wurde von vielen einfach ignoriert. In der Ukraine macht sich knapp zwei Jahre nach der proeuropäischen Massenbewegung vom Maidan und dem verlustreichen Krieg im Donbass Enttäuschung über die Elite des Landes breit. Das liegt vor allem an den schwierigen Lebensbedingungen: Während Lebenshaltungskosten steigen, haben die Löhne nicht mitgezogen.

Die 59-jährige Natalia Wasilewna hat im herausgeputzten Gymnasium im Kiewer Neubauviertel Posnjaki ihr Kreuz gemacht auf den ellenlangen Wahlzetteln, auf denen 28 Kandidaten für den Bürgermeisterposten antraten und 40 Parteien um Stadtratssitze ritterten – allerdings mehr aus staatsbürgerlicher Pflicht denn aus Überzeugung.

949 Hrywnja macht ihre monatliche Pension aus, umgerechnet 38 Euro. Die Ausgaben für Strom, Gas und Wasser seien so hoch, dass kaum Geld für Essen und übrig bleibe, klagt sie. „Der Premierminister hat höhere Pensionen versprochen“, sagt Wasilewna. „Aber meine ist gleich geblieben.“ Sie habe das Gefühl, dass die Politiker doch nur für die eigene Tasche arbeiteten und nicht für die Menschen. Die Zuversicht, die viele Ukrainer nach dem Maidan hatten, ist der Aussicht auf eine lange Durststrecke gewichen.

Der Wahlkampf war verbissen, das Komitee der ukrainischen Wähler meldete zahlreiche Übertretungen, unerlaubte Agitation, Stimmenkauf und „Karussellfahrten“, das heißt mit Bussen herangekarrte Wähler. Diese unlauteren Praktiken deuten Beobachter als Versuch der mächtigen Oligarchen, ihren Einfluss in der Politik zurückzuerobern, nachdem sie als Folge des Maidan zunächst abgedrängt worden waren. Zudem sichern sich viele mächtige Lokalherrscher ihre Vormachtstellung durch den Einsatz administrativer Ressourcen.

Klitschko muss in Stichwahl

Probleme bei der Abhaltung der Lokalwahl gab es in Mariupol am Asowschen Meer und in der Stadt Krasnoarmiisk, beide ukrainisch kontrolliert und nahe am Konfliktgebiet. In Mariupol sagte die örtliche Wahlkommission die Wahl ab, da die Wahlzettel in einer Druckerei des Oligarchen Rinat Achmetow gedruckt worden waren und man Manipulation vermutete.

In vielen Städten des Ostens und Südens hat es der Regierungsblock – die Partei Solidarnist von Präsident Petro Poroschenko – nicht geschafft, das Vertrauen der Wähler zu gewinnen: In Charkiw siegte der frühere Janukowitsch-Vertraute und nach einem Anschlag noch immer an den Rollstuhl gefesselte Gennadij Kernes klar im ersten Durchgang.

In Odessa hat der bisherige Amtsinhaber und ehemalige Partei-der-Regionen-Kader Gennadij Truchanow ebenso keine Stichwahl nötig. Diese eindeutige Bestätigung blieb Bürgermeister Vitali Klitschko in Kiew versagt: Er kam mit über 40 Prozent Wählerstimmen zwar klar auf den ersten Platz, benötigt aber einen zweiten Wahlgang.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2015)

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