Das Internet der zwei Geschwindigkeiten

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Das EU-Parlament hat eine umstrittene Regelung verabschiedet, die der Grundstein für eine Zweiklassengesellschaft im Internet sein könnte. Experten sind alarmiert.

Wien/Brüssel. Alle Daten sind gleich: Dieser Grundsatz galt bisher im Internet. Egal ob ein E-Mail, ein Film, ein Foto oder die Diagnose eines Arztes: Alle Daten werden gleich schnell befördert.

Doch jetzt macht die EU ein paar Daten gleicher als andere. Das europäische Parlament hat im Zuge der Abschaffung der Roaming-Gebühren auch einen Passus verabschiedet, der „Spezialdiensten“ eine Bevorzugung beim Datentransport einräumt. Was solche Dienste sind, ist freilich nicht definiert.

1. Was versteht man überhaupt unter Netzneutralität?

Netzneutralität bedeutet, dass Internetanbieter alle Datenpakete gleichberechtigt durch ihre Leitungen schicken, egal woher sie stammen oder welchen Inhalt sie haben. Da die Datenmenge ständig wächst, steigt damit auch die Gefahr von „Staus“ im Netz.

2. Was genau hat das europäische Parlament nun festgelegt?

Die Abgeordneten sind sich einig, dass sich niemand eine „Vorfahrt“ im Internet vorbei an den „Staus“ erkaufen dürfe. Allerdings werden „Spezialdienste“ genannt, die das Prinzip der Netzneutralität aushebeln könnten. Die Rede ist von Diensten wie der Telemedizin, dem Fernsehen im Internet oder der Steuerung autonom fahrender Autos. Diese Dienste sollen privilegiert behandelt werden können. Die Ausnahme von der Regel soll also dafür sorgen, dass beim Video-Streaming das Bild nicht ruckelt, bei einer Telemedizinanwendung das Bild während einer Operation nicht plötzlich unscharf wird oder ein Auto nicht rechtzeitig bremst, nur weil gerade nicht genügend Bandbreite zur Verfügung steht.

3. Ist das nicht sinnvoll? Warum ist das so umstritten?

Kritiker fürchten, dass die Netzneutralität durch vage Formulierungen praktisch abgeschafft wird. Vor der Abstimmung hatten mehr als 30 führende Start-ups, Internetunternehmen und Investoren aus Europa und den USA Änderungen der Pläne gefordert. Auch der Erfinder des World Wide Web, Tim Berners-Lee, wandte sich gegen die Regelung. Die Kritiker befürchten, dass die Entwicklung innovativer Dienste behindert wird, wenn Internetprovider bezahlpflichtige „Überholspuren“ für bestimmte Daten einrichten und andere Dienste ausbremsen dürfen.

4. Welchen Spielraum haben die Internetprovider?

Wenn das Netz tatsächlich überlastet ist, dürfen die Provider steuernd eingreifen und beispielsweise dafür sorgen, dass Notrufnummern noch erreichbar sind. Die Vorfahrt für bestimmte Dienste wird in der Verordnung allerdings schon dann erlaubt, wenn eine Netzüberlastung noch gar nicht eingetreten ist.

5. Was bedeutet „Zero Rate“, und warum wird es jetzt doch erlaubt?

Die meisten Flatrates für einen Internetzugang (vor allem, wenn er mobil über das Handy erfolgt) sehen eine Drosselung der Geschwindigkeit ab einem bestimmten verbrauchten Datenvolumen vor. Beim „Zero Rating“ werden bestimmte Dienste aus der Volumenberechnung für diese Drosselung ausgeklammert. So bieten etwa österreichische Mobilfunkbetreiber Musik- oder Videodienste an, die nicht dem Datenvolumen angelastet werden. Wer dagegen einen anderen Dienst nutzt, muss sich die Streaming-Daten auf sein Kontingent anrechnen lassen. Im ersten Gesetzesentwurf war dieses „Zero Rating“ noch untersagt, im aktuellen Entwurf findet sich das Verbot nicht mehr. Der Chef des österreichischen Telekomregulators RTR, Johannes Gungl, kritisiert das und meint, es verzerre den Wettbewerb. „Der Netzbetreiber entscheidet letztlich, welche Anbieter solcher Dienste sich beim Endkunden durchsetzen.“ Damit habe nicht das beste Angebot Erfolg, sondern jener Anbieter, der am meisten an den Provider bezahle. Und das gefährde langfristig die Netzneutralität.

6. Ab wann gilt die Neuregelung für die Behandlung der Daten?

Vermutlich ab Ende 2016. Die Richtlinien für die Umsetzung werden von den Regulierungsbehörden erarbeitet. (ag./red.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2015)

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