Europa, eine Union der Protestwähler

(c) AP (Gemunu Amarasinghe)
  • Drucken

EU-weit haben vor allem die Protest- und Rechtsparteien zugelegt. In vielen Ländern waren es Wahlen gegen die nationalen Regierungen. Die EU-Wähler sind offenbar unzufrieden mit ihren Regierungen, nicht nur mit Europa.

Brüssel.Ein Ergebnis zeigt sich in fast allen Ländern: Die Regierungsparteien wurden abgestraft. Die Oppositionsparteien haben profitiert, allen voran die Protestparteien. Auch ein Rechtsruck lässt sich in vielen Ländern feststellen.

Einen herben Rückschlag musste die deutsche SPD hinnehmen. Die regierende CDU/CSU konnte sich mit leichten Verlusten über die Ziellinie retten. Auch in Frankreich fuhren die Sozialisten massive Einbußen ein, während sich die Partei von Präsident Nicolas Sarkozy UMP behaupten konnte. Ganz besonders „abgewatscht“ wurde die Labour-Partei von Premier Gordon Brown. Das ist aber vermutlich vor allem dem aktuellen Spesenskandal um britische Abgeordnete im Land zu verdanken – nicht nur dem traditionellen EU-Frust der Bürger.

In Irland sieht das schon anders aus: Da stimmten die knapp drei Wahlberechtigten deutlich gegen ihren konservativen Premier Brian Cowen. Dieser hat vor allem mit den Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu kämpfen, die auf der Grünen Insel besonders dramatisch ausgefallen sind.

Die EU-Wähler sind offenbar unzufrieden mit ihren Regierungen, nicht nur mit Europa. Doch Europa zahlt drauf. Mehr als die Hälfte der 375 Millionen Wahlberechtigten in den 27 Ländern blieb gestern überhaupt lieber zu Hause, als sich an den Wahlen zu beteiligen. Die Wahlbeteiligung war so niedrig wie noch nie seit der ersten Direktwahl zum EU-Parlament 1979: Nur etwa 43,1 Prozent gingen diesmal zu den Urnen, bei der vorigen Wahl 2004 waren es EU-weit immerhin noch 45,5 Prozent gewesen.

Nichtwähler voran


Und das, obwohl es um die einzige direkt vom Volk gewählte EU-Institution ging. Das ist nicht nur ein schlechtes Zeugnis für das Wahlvolk. Das ist in erster Linie eine Ohrfeige für das Europaparlament, das seit 1979 stetig an Kompetenz gewonnen hat. Die Europäische Union mit all ihren Richtlinien und komplizierten Entscheidungsprozessen ist offenbar nicht sexy.

Protestparteien oder gar Rechtsparteien sind es offenbar. Gerade die Rechten oder Rechtspopulisten konnten in mehreren Ländern deutlich zulegen: In den Niederlanden gelang dies etwa der besonders EU-kritischen PVV des umstrittenen Parteichefs Geert Wilders. Die PVV wurde Zweite hinter der Regierungspartei der Christdemokraten, für diese ist es ein erbärmliches Ergebnis. Weniger stark als erwartet schnitten demgegenüber etwa in Belgien der Vlaams Belang oder in Frankreich die Front National ab.

Die Europäischen Konservativen (EVP), aber europaweit auch die Sozialdemokraten (SPE) sind noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Nicht zuletzt der Wirtschaftskrise, in der sich gerade der Euro bewährt, dürfte es zu verdanken sein, dass beide Parteifamilien nicht noch stärker abgerutscht sind. So fuhren sowohl die bisherige und künftige Nummer eins, die EVP, als auch die Nummer zwei, die SPE, leichte Verluste ein.

Chance für Barroso


Die EVP als stimmenstärkste Fraktion dürfte damit ab Herbst wieder den nächsten EU-Kommissionspräsidenten, vermutlich erneut José Manuel Barroso, stellen. Und aus der EVP dürfte auch der nächste EU-Parlamentspräsident stammen, nach dem Wunsch vieler Abgeordneter soll es der polnische Expremier Jerzy Buzek sein.
Eine Fortsetzung der Machtkoalition aus EVP und SPE im EU-Parlament ist aber trotzdem keine ausgemachte Sache mehr: Beide wurden geschwächt. Nach den Ergebnissen aus Großbritannien oder Tschechien hat auch eine neue, zweite konservative Fraktion mitzureden, die Rechte und Rechtsextreme aus mehreren Ländern aufnehmen könnte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2009)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.