Analyse: Absage an Europas Regierungen

BELGIUM EU EUROPEAN ELECTIONS
BELGIUM EU EUROPEAN ELECTIONS (c) EPA (Olivier Hoslet)
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EU-weit haben Protest- und Rechtsparteien, aber auch Pro-Europa-Gruppen zugelegt. In den großen Ländern verloren vor allem die Sozialdemokraten.

Brüssel. Ein Ergebnis zeigt sich in fast allen Ländern: Die Regierungsparteien wurden abgestraft. Die Oppositionsparteien haben profitiert, allen voran die Protestparteien. Auch ein Rechtsruck lässt sich in vielen Ländern feststellen. In einigen Ländern gewannen aber auch Pro-Europa-Gruppierungen wie etwa die Grünen in Frankreich.
s-9;0Einen herben Rückschlag musste die deutsche SPD hinnehmen. Die regierende CDU/CSU konnte sich mit leichten Verlusten über die Ziellinie retten. Auch in Frankreich fuhren die Sozialisten massive Einbußen ein, während sich die Partei von Präsident Nicolas Sarkozy UMP behaupten konnte. Ganz besonders „abgewatscht" wurde die Labour-Partei von Großbritanniens Premier Gordon Brown. Das ist aber vermutlich vor allem dem aktuellen Spesenskandal um britische Abgeordnete im Land zu verdanken - nicht nur dem traditionellen EU-Frust der Bürger.
sIn Irland sieht das schon anders aus: Da stimmten die knapp drei Millionen Wahlberechtigten deutlich gegen ihren konservativen Premier Brian Cowen. Dieser hat vor allem mit den Auswirkungen der Wirtschaftskrise zu kämpfen, die auf der grünen Insel besonders dramatisch ausgefallen sind.

Nichtwähler voran

Die EU-Wähler sind offenbar unzufrieden mit ihren Regierungen, nicht nur mit Europa. Doch Europa zahlt drauf. Mehr als die Hälfte der 375 Millionen Wahlberechtigten in den 27 Ländern blieb gestern überhaupt lieber zu Hause, als sich an den Wahlen zu beteiligen. Die Wahlbeteiligung war so niedrig wie noch nie seit der ersten Direktwahl zum EU-Parlament 1979: Nur etwa 43,2 Prozent gingen diesmal zu den Urnen, bei der vorigen Wahl 2004 waren es EU-weit immerhin noch 45,5 Prozent gewesen.
Und das, obwohl es um die einzige direkt vom Volk gewählte EU-Institution ging. Das ist nicht nur ein schlechtes Zeugnis für das Wahlvolk. Das ist in erster Linie eine Ohrfeige für das Europaparlament, das seit 1979 stetig an Kompetenz gewonnen hat. Die Europäische Union mit all ihren Richtlinien und komplizierten Entscheidungsprozessen ist offenbar nicht sexy.


Protestparteien oder gar Rechtsparteien sind es, wie es scheint. Gerade die Rechten oder Rechtspopulisten konnten in mehreren Ländern deutlich zulegen: In den Niederlanden gelang dies etwa der besonders EU-kritischen PVV des umstrittenen Parteichefs Geert Wilders. Die PVV wurde Zweite hinter der Regierungspartei der Christdemokraten, für diese ist es ein erbärmliches Ergebnis. Weniger stark als erwartet schnitten demgegenüber etwa in Belgien der Vlaams Belang oder in Frankreich die Front National ab.
Die Europäischen Konservativen (EVP), aber europaweit auch die Sozialdemokraten (SPE) sind noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Nicht zuletzt der Wirtschaftskrise, in der sich gerade der Euro bewährt, dürfte es zu verdanken sein, dass beide Parteifamilien nicht noch stärker abgerutscht sind. So konnte die bisherige und künftige Nummer eins, die EVP, ungefähr ihre Stärke halten. Die Nummer zwei, die SPE, fuhr demgegenüber doch deutliche Verluste mit Blick auf das nächste EU-Parlament ein.

Chance für Barroso

Die EVP als stimmenstärkste Fraktion dürfte damit ab Herbst wieder den nächsten EU-Kommissionspräsidenten, vermutlich erneut José Manuel Barroso, stellen. Und aus der EVP dürfte auch der nächste EU-Parlamentspräsident stammen, nach dem Wunsch vieler Abgeordneter soll es der polnische Expremier Jerzy Buzek sein.
Eine Fortsetzung der Machtkoalition aus EVP und SPE im EU-Parlament ist aber trotzdem keine ausgemachte Sache mehr: Beide wurden geschwächt. Nach den Ergebnissen aus Großbritannien oder Tschechien hat auch eine neue, zweite konservative Fraktion mitzureden, die Rechte und Rechtsextreme aus mehreren Ländern aufnehmen könnte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2009)

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