Erdoğans Weg aus dem Laizismus

Supporters of the ruling AK Party wave national and party flags during an election rally in the central Anatolian city of Konya
Supporters of the ruling AK Party wave national and party flags during an election rally in the central Anatolian city of Konya(c) REUTERS (UMIT BEKTAS)
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Obwohl am Sonntag Neuwahlen anstehen, wird schon über eine weitere Neuwahl spekuliert. Laut Umfragen stehen ähnliche Resultate wie bei der Wahl im Juni an. Präsident Erdoğan will an der Macht bleiben. Ungemach droht ihm von alten Weggefährten.

Istanbul. Schon vor dem Wahltag wird über das Datum für den nächsten Urnengang spekuliert – in der Türkei erwartet niemand, dass die Parlamentswahl vom Sonntag eine schnelle und einfache Lösung für die politischen Probleme in Ankara bringen wird. Intensiv denken Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die Regierung und diverse Parteien über verschiedene Handlungsoptionen nach. Alle Überlegungen haben eine Grundannahme gemeinsam: Einfach wird es nicht.

Damit kehrt die Türkei zu Zuständen der politischen Unsicherheit zurück, die in den vergangenen Jahrzehnten oft die Regel gewesen sind. Erst der Wahlsieg der Erdoğan-Partei AKP vor fast genau 13 Jahren läutete eine neue Ära ein – die Wahl vom 3. November 2002 ermöglichte der AKP eine Alleinregierung. Mehrmals wiederholte Erdoğan diesen Erfolg und erreichte bei der Wahl von 2011 die historische Höchstmarke von knapp 50 Prozent der Stimmen.

Doch seitdem geht der Stimmenanteil der AKP zurück: Bei der Parlamentswahl vom Juni sackte sie auf 41 Prozent ab. Das ist nach mehr als zwölf Jahren an der Macht zwar immer noch eine beeindruckende Zahl, doch büßte die Erdoğan-Partei die absolute Mehrheit der Sitze in der Großen Nationalversammlung in Ankara ein. Eher pro forma führte Ministerpräsident und AKP-Chef Ahmet Davutoğlu anschließend einige Koalitionsgespräche: Es war ein offenes Geheimnis, dass Erdoğan, der nach wie vor der entscheidende Mann innerhalb der AKP ist, rasche Neuwahlen wollte.

(c) Die Presse

Anatolische Vorherrschaft zementieren

Erdoğan drängt bei der Wahl am Sonntag auf eine möglichst breite AKP-Mehrheit im Parlament, weil er mithilfe von Verfassungsänderungen ein Präsidialsystem mit weitreichenden Vollmachten für sich selbst als Staatsschef einführen will. Dabei denkt Erdoğan nicht nur an seine eigene politische Karriere. Er will die Vorherrschaft der konservativen Anatolier – die strukturelle Mehrheit der Wählerschaft – endlich auf Dauer festschreiben.

Wenn sich der Präsident mit seinem Plan durchsetzt, ist es nach den heute bestehenden Kräfteverhältnissen fast ausgeschlossen, dass die Türkei jemals einen linken oder laizistischen Präsidenten erhalten könnte. Die politische Richtung des Landes so auf Jahre hinaus festzuschreiben, ist aber Erdoğans strategisches Ziel.

Vor der Wahl am Sonntag steht es aber nicht sehr gut um Erdoğans Plan. Die meisten Umfragen sehen die AKP nach wie vor unterhalb der Marke von 276 Parlamentsmandaten, die eine neue Alleinregierung ermöglichen würden. Mit rund 41 Prozent für die AKP, etwa 27 Prozent für die säkular-kemalistische CHP, 16 Prozent für die rechtsnationale MHP und zwölf Prozent für die Kurdenpartei HDP prophezeien die Institute einen Wahlausgang, der dem Resultat der Juni-Wahl sehr ähnlich ist. Eine Dreifünftelmehrheit von 330 Sitzen, die Verfassungsänderungen ermöglichen würde, ist für die AKP also völlig ausgeschlossen. Selbst wenn die AKP erneut allein regieren kann, wird sie zu schwach sein, um das begehrte Präsidialsystem einzuführen.

Deshalb lautet das Nahziel der AKP nun Machterhalt. Ohne AKP werde die Türkei ins Chaos stürzen, sagt Premier Davutoğlu in seinen Wahlkampfreden. Kritiker meinen, die AKP wolle vor allem eine kritische Untersuchung ihrer Regierungsarbeit durch ein neues Kabinett vermeiden: Die derzeitigen Oppositionsparteien verlangen eine Aufarbeitung der Korruptionsvorwürfe gegen die AKP. Auch andere Sachthemen und politische Unverträglichkeiten könnten eine Koalitionsbildung erschweren.

So fordert die MHP als Vorbedingung für ein Bündnis mit der AKP die endgültige Beendigung des Friedensprozesses mit den Kurden. Sowohl die AKP als auch die MHP lehnen eine Zusammenarbeit mit der kurdischen HDP ab. „Das wird sehr schwer“, sagt ein Regierungsvertreter über die möglichen Koalitionsverhandlungen.

Möglichkeit einer „fünften Partei“

Sollte die Wahl vom Sonntag ähnlich ausgehen wie jene im Juni, könnte es folglich schon bald neuerlich Wahlen geben. Zwar schließt Davutoğlu einen erneuten Urnengang aus, und auch der Regierungsvertreter in Ankara betont, die Türken hätten Wahlen inzwischen ziemlich satt. In der AKP wird dennoch munter über einen weiteren Neuwahltermin im April spekuliert.

Noch eine andere Option ist allerdings möglich. MHP-Chef Devlet Bahçeli und andere Akteure sprechen von der Möglichkeit, dass eine fünfte Partei als neue politische Kraft die Bühne betreten könnte. Enttäuschte AKP-Politiker wie Ex-Präsident Abdullah Gül arbeiten laut Presseberichten an einem solchen Projekt, das die Erdoğan-Partei spalten und die politische Landschaft nachhaltig verändern könnte. Dementiert werden solche Pläne ausdrücklich nicht – die Wahl vom Sonntag könnte also den Beginn einer neuen und nicht minder turbulenten Ära der türkischen Politik darstellen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)

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