Viennale:„Einer von uns“ - Blut im Kremser Supermarkt

Einer von uns
Einer von uns(c) Viennale
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2009 wurde ein 14-Jähriger in Krems von einem Polizisten tödlich getroffen. Stephan Richter hat daraus das Drama „Einer von uns“ gemacht – ohne Wahrheitsanspruch.

Der Supermarkt blutet. Aus dem Einschussloch in der Waschmittelflasche rinnt bläuliche Flüssigkeit und verteilt sich langsam über den Fliesenboden. Doch die Wunden der Warenwelt sind schnell verheilt – wisch und weg! – während der 14-Jährige, der reglos im neonbeleuchteten Gang zwischen den Regalen liegt, nie wieder aufstehen wird. Mit diesen ominösen Bildern eröffnet Stephan Richters Drama „Einer von uns“, das am Samstag auf der Viennale Österreich-Premiere hat (Uraufführung war bereits im September beim Internationalen Filmfestival San Sebastián).

Der Film basiert auf den Ereignissen des 5. August 2009: Zwei Jugendliche brachen nachts im Kremser Stadtteil Lerchenfeld in eine Merkur-Filiale ein und lösten den stillen Alarm aus. Die Polizei ertappte sie und schoss – einer wurde tödlich getroffen, der andere schwer verletzt. „Wer alt genug zum Einbrechen ist, ist auch alt genug zum Sterben“, kommentierte zynisch der „Krone“-Kolumnist Michael Jeannée.

Richters Film versteht sich nicht zuletzt als künstlerische Antwort auf den Diskurs über den Fall. „Einer von uns“ ist keine Rekonstruktion mit Wahrheitsanspruch, sondern eine behutsame Interpretation, die vereinfachenden Kurzschlussurteilen jeder Art eine ausdifferenzierte Sichtweise entgegenstellen möchte. Die erwähnte Einstellung einer blauen Pfütze, die sich tranig auf dem Boden ausbreitet, spiegelt ein ähnliches Bild aus Michael Hanekes „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“. Dort ist es Blut, das nach einem Amoklauf in einer Bankfiliale die Leinwand füllt. Wie Haneke wählt der Medienkünstler Richter in seinem ersten Langspielfilm eine makroskopische Perspektive, beleuchtet das Umfeld und die sozialen Rahmenbedingungen einer sinnlosen Gewalttat. Auch er findet Ursachen in Mechanismen der Entfremdung, doch sein Blick ist weniger distanziert und formalistisch – Empathie und Psychologisierung sind für ihn keine Tabus.

Herumlungern auf dem Parkplatz

Drehpunkt der fiktionalisierten Erzählung ist der besagte Supermarkt (gedreht wurde in einem Laden in Oberösterreich, weil keine Konzernkette etwas mit dem Projekt zu tun haben wollte). Er ist das unausweichliche Zentrum des Vorstadtbiotops, hier treffen sich alle, ob sie wollen oder nicht. Die Teenager lungern auf dem Parkplatz herum, weil ihnen das perspektivlose Leben in der Provinz nichts Interessanteres zu bieten hat (Enzo Brandners Breitwandaufnahmen betonen die Leere, landschaftlich wie seelisch). Shisha rauchen, Musik hören, Flirten auf dem Filialdach – Freiheit spielen, wie man das halt so macht. Im Dienst klopft ihnen die Polizei hin und wieder auf die Finger, nach Feierabend schielen die Gendarmen vom Grillhendlstand verächtlich zum „Gesindel“ herüber, aber eigentlich ist ihnen genauso fad. Indes nimmt im Geschäft der Konsum seinen geregelten Lauf, unter den wachsamen Augen eines kleingeistigen Filialleiters (Markus Schleinzer), der in seinem Büro regelmäßig seinen Blutdruck misst – Ordnung muss sein.

Im Zuge einer episodischen Rundschau auf diese Welt voller unterschwelliger Konflikte rücken zwei Figuren sukzessive in den Fokus: Der junge, unsichere Julian (Jack Hofer) und der frisch aus dem Häfen entlassene Marko (Simon Morzé). Der Frust des Älteren entlädt sich immer wieder in harmlosen Transgressionen, mit dem von seinem tristen Dasein nicht weniger enttäuschten Möchtegern-Gangster Victor cruist er ziellos durch die Gegend (Christopher Schärf erinnert in der Rolle Victors dank Cornrows-Frisur auch an James Francos Kultauftritt in „Spring Breakers“; vor fünf Jahren hätte ihn wohl Georg Friedrich gespielt). Schließlich nehmen sie Julian auf eine dieser trinkseligen Spritztouren mit – und landen erst recht wieder im Supermarkt, der sie in seiner nächtlichen Verlassenheit zu einem spontanen Akt der Rebellion einlädt.

Ein bisschen leidet „Einer von uns“ an den üblichen Förderkinoschwächen: Die Milieuschilderung schrammt gerade deshalb an der Authentizität vorbei, weil ihr diese sichtlich enorm am Herzen liegt. So wirkt die Figurenzeichnung trotz gründlicher Recherchen etwas typenhaft, der Dialog trotz regionalem Idiom etwas künstlich, das Drehbuch trotz der vielen Perspektiven etwas schematisch. Zudem wird die Inszenierung des Supermarkts als Locus terribilis und Symbol emotionaler Sterilität überstrapaziert. Allzu oft fährt die Kamera wie auf einem Fließband vorbei an vakuumverpackten Fleischwaren und eine pointierte Reinigungsmaschinen-Metapher kommt unnötigerweise gleich zweimal zum Einsatz. Aber Richters Vorhaben, den Tunnelblick reflexartiger Schuldzuweisungen aufzubrechen, geht auf. Auch der Todesschütze (Andreas Lust) wird keinesfalls verteufelt. In der finalen Sequenz wirkt er, durchs dunkle Labyrinth der Kaufhausregale irrend, fast ebenso verängstigt wie die Jugendlichen, die vor ihm flüchten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)

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