Angst vor Erdoğan: "Ich mag ihn nicht mehr"

Die Türkei ist heute ein zerrissenes Land. Frühere Mitstreiter wenden sich von Erdoğan (Mitte) ab.
Die Türkei ist heute ein zerrissenes Land. Frühere Mitstreiter wenden sich von Erdoğan (Mitte) ab.AFP
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Vor der Parlamentswahl am heutigen Sonntag irritierte der zusehends despotische Präsident auch eigene Anhänger. Jugendfreunde sind verunsichert, zwei Drittel der Türken haben laut Umfrage Angst vor ihm.

Ismael Topaloglu rührt in seinem Tee, steckt sich eine neue Zigarette an und schaut auf die Straße hinaus. Regen fällt vom grauen Himmel im Istanbuler Viertel Kasimpaşa am Goldenen Horn. Topaloglu ist hier zu Hause und trinkt seinen Tee immer im selben Teehaus, das es schon seit Jahrzehnten gibt.

Als Kind wuchs der 58-Jährige nicht weit von hier mit einem Nachbarsbuben namens Recep Tayyip Erdoğan auf. „Ein klasse Kerl war das“, sagt Topaloglu über den drei Jahre älteren türkischen Präsidenten. In den vergangenen Jahren hat Topaloglu immer für Erdoğans Partei AKP gestimmt, aber vor der Parlamentswahl zögert er. Denn Tayyip, wie jeder hier den Präsidenten nennt, habe sich verändert, sagt Topaloglu. Das bekommt die Türkei zu spüren.

Wenige Tage vor der Wahl muss die AKP kämpfen. Vor der Wahl im Juni verfolgte Erdoğan noch das Ziel, die Partei im Parlament stark genug zu machen, um sich zusätzliche Machtbefugnisse zu sichern. Aber die AKP verlor ihre Mehrheit, darauf setzte Erdoğan die Neuwahl an. Jetzt geht es für die AKP darum, ihre Mehrheit zurückzuerobern. Denn wenn sie nach der Wahl einen Koalitionspartner braucht, kann Erdoğan seine Präsidentenpläne begraben.

Die alten Freunde springen ab

Dass Leute wie Topaloglu von der Fahne gehen, ist ein Alarmsignal für die Regierungspartei. Für Topaloglu wie für viele in Kasimpaşa war Erdoğan lange ein Idol. Das Fußballstadion des Viertels trägt seinen Namen, ab und zu besucht er seine Heimat. Bei einem Besuch nach der Juniwahl hat Topaloglu seinen Jugendfreund gesprochen. Da war Tayyip längst nicht mehr der Alte.

Topaloglu und Tayyip haben viel gemeinsam. Die Eltern beider stammten aus Rize am Schwarzen Meer und kamen nach Istanbul, um Arbeit zu suchen. Viele Anatolier vom Schwarzen Meer fanden sich damals in Kasimpaşa zusammen, einer Arbeiter- und Werftengegend, das einst als Schlägerviertel berüchtigt war. Als junger Mann sei Erdoğan einer gewesen, der die Leute zusammenbrachte und versöhnte, erinnert sich Topaloglu. Selbst bei Romeo-und-Julia-Geschichten schaltete sich Erdoğan junior als Vermittler ein. „Einmal hatten zwei Familien Streit; es ging um ein Mädchen und darum, wen es heiraten sollte.“ Tayyip beendete damals nicht nur den Zwist, sondern machte aus den Gegnern Freunde. „So einer war er!“ Die Betonung liegt auf „war“. Denn heute sei Tayyip nicht mehr so. „Ich mag ihn nicht mehr.“ Heute sei er nur noch auf Krawall gebürstet. Warum? „Ich weiß es nicht. Vielleicht muss man als Politiker so sein.“ Er will am Sonntag für eine Partei stimmen, „die das Land wieder vereint“ – damit meint er wohl nicht die AKP.

Eigentlich ist Topaloglu der typische AKP-Wähler: kleinbürgerlich, fleißig und auf die Familie bedacht. Er ist Frührentner, arbeitet aber weiter als Bus- und Lkw-Fahrer bei der Stadtverwaltung, um seinen Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Seine älteste Tochter hat die Uni abgeschlossen, ist Ärztin und hat Familie, seine zweite Tochter studiert IT, sein Sohn ist im Gymnasium. Leuten wie den Topaloglus diese Chancen ermöglicht zu haben ist einer der Erfolge der AKP.

Topaloglu freut sich auch über andere Leistungen der AKP, etwa den Ausbau der Fernstraßen. Bei Verwandtenbesuchen brauchte er früher 24 Stunden für die 1100 Kilometer nach Rize, heute geht es doppelt so schnell. Trotz Korruptionsvorwürfen und Kritik an Erdoğans herrischem Stil kann die AKP als Partei des Wirtschaftsbooms am Sonntag mit 40 Prozent der Stimmen rechnen. In Kasimpaşa ist ihre Stärke noch spürbar. „Wenn eine Partei den Leuten Lohn und Brot bringt, gewinnt sie Wahlen“, sagt ein Passant.

Etwas im Land ist zerbrochen

Dennoch herrscht im Viertel keine Begeisterung beim AKP-Fußvolk. „Was soll schon werden? Ändern tut sich nichts“, brummt einer. Die Wirtschaft stottert, die Arbeitslosigkeit steigt. Jeder fünfte Türke unter 24 Jahren hat keinen Job. Der Selbstmordanschlag von Ankara vom 10. Oktober mit mehr als 100 Toten hat Wähler wie Politiker schockiert.

„Die Leute sind verunsichert“, sagt Topaloglu und streicht über die Plastikdecke an seinem Tisch. Der Regen prasselt auf die Markise, unter der er sitzt und raucht. „Du weißt nie, wo es das nächste Mal krachen wird.“ Türken wie er haben das Gefühl, dass etwas im Land zerbricht, der Zusammenhalt verloren geht, Grenzen überschritten werden. Wie früher beim Familienstreit in Kasimpaşa müsste jemand da sein, der die Leute zusammenbringt. Doch Erdoğan hat anderes im Sinn. Er pfeift auf die Neutralitätspflicht für den Staatschef und kanzelt AKP-Gegner als vaterlandslose Gesellen ab. Häufig dient sein Prunkpalast in Ankara als Bühne für die Attacken, so wie an einem Montag kurz vor der Wahl. Der Präsident hatte wieder hunderte Dorfbürgermeister geladen – die Treffen sollen Volksnähe suggerieren.

Mit roter Krawatte auf weißem Hemd und dunklem Anzug mit Anstecknadel in Form der türkischen Flagge am Revers trat er ans Pult, das mit dem Siegel des Präsidialamtes verziert ist. Neben ihm türkische Fahnen. Damit endete das Staatsmännische schon. Er wetterte gegen kritische Politiker, Medien und Verbände, die sich nicht damit abfinden könnten, dass nur er den Volkswillen verkörpere. Die Opposition? „Man kann die nicht einmal Parteien nennen, das sind Banden.“ Kritik aus der Zivilgesellschaft? „Propagandamaschinen des Terrors.“ Die hundert angesehenen Intellektuellen, die Kanzlerin Angela Merkel vor deren kürzlichem Besuch bei Erdoğan vor Wahlkampfhilfe für die AKP warnten? „Schwachköpfe.“

Die Angriffe gehen einher mit dem Hang zu Prunk, der dem Mann aus kleinen Verhältnissen den Vorwurf einbrachte, er verwechsle sein Wahlamt mit der unbeschränkten Macht eines Sultans. Zur Einrichtung des Palastes zählen angeblich goldumrandete Kristallgläser für 300 Euro das Stück. Eine Oppositionszeitung rechnete vor, dass allein der Füllfederhalter auf Erdoğans Schreibtisch viermal mehr koste, als ein Arbeiter im Monat verdiene.

Mit Argusaugen beobachten Erdoğans private Anwälte und regierungstreue Staatsanwälte jede mögliche Kritik: Zuletzt wurde ein 15-Jähriger festgenommen, weil er Erdoğan auf Facebook beleidigt habe. Als das Magazin „Nokta“ aus AKP-Besprechungen zitierte, in denen Erdoğan als potenzielle Belastung für den Wahlkampf erschien, verbat die Justiz nicht nur diese Ausgabe, sondern alle noch unveröffentlichten Hefte zum Thema gleich mit. Erdoğan selbst hat den Chefredakteur der regierungskritischen Tageszeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, wegen Spionage verklagt. Dem Journalisten droht lebenslange Haft.

Seit Erdoğans Amtsantritt im August 2014 hat die Justiz mehr als 100 Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet. Mittlerweile sitzen mehr Menschen wegen kritischer Twitter-Postings im Gefängnis als wegen Unterstützung für den Islamischen Staat (IS), sagt die Opposition. Der Bruder eines im Kampf gegen die kurdische PKK gefallenen Soldaten soll nach dem Willen der Staatsanwaltschaft 16 Jahre ins Gefängnis, da er bei der Beisetzung den Präsidenten kritisierte. Laut Umfrage haben zwei von drei Türken Angst vor Erdoğan.

Premier Ahmet Davutoğlu, Erdoğans Statthalter als AKP-Chef, wirkt blass neben dem Chef, er ist zu schwach, die Gräben zu überbrücken. Und die Opposition hilft, sie zu vertiefen. Selahattin Demirtaş, Chef der legalen Kurdenpartei HDP, wirft Erdoğan und der AKP vor, die Türkei „an den Rand des Bürgerkriegs“ gedrängt zu haben. Kemal Kiliçdaroğlu, Chef der säkularen Partei CHP, nennt Erdoğan einen „Diktator“. Nationalistenboss Devlet Bahçeli stellt ihn als PKK-Kollaborateur hin, der bei den nunmehr gestoppten Verhandlungen zur Lösung des Kurdenkonflikts mit den Kurden paktiert habe.

Wie diese Parteien eine Koalition formen sollen, weiß keiner. Die Kluft zwischen Erdoğan-Fans und -Gegnern sei die „wichtigste Verwerfungslinie in der Gesellschaft“, soll Davutoğlu-Berater Hatem Ete in einer Besprechung analysiert haben. Ein Beamter in Ankara, der nicht genannt werden will, spricht von einem „Klima der Angst“.

Unterstützt wird Erdoğan von den vielen regierungsnahen Medien. Der Besitzer einer solchen Zeitung bekannte sich öffentlich zu seiner „wunderschönen Männerliebe“ zum Präsidenten und dazu, dass er seine Eltern und Kinder für diesen opfern würde.

Hätte er sich doch nicht verändert

Auch zunächst loyale Journalisten springen ab, selbst alte Mitstreiter sind desillusioniert. Die Polarisierung der Gesellschaft – Erdoğans Hauptinstrument zur Mobilisierung der AKP – habe gefährliche Ausmaße erreicht, sagt der mittlerweile kaltgestellte AKP-Mitbegründer Bülent Arinç. Die AKP spreche mit Hassrhetorik über Gegner. „Früher gingen wir auf die Straße, und die Leute mochten uns. Selbst unsere Gegner zollten uns Respekt. Heute spüre ich Hass.“

Vom Teehaus in Kasimpaşa aus sieht Erdoğans Jugendfreund Topaloglu dem Treiben ratlos zu. „Wir sind doch ein Volk, aber alle streiten sich.“ Inzwischen verlieren immer mehr Menschen ihre Arbeit, der Krieg in Syrien treibt Flüchtlinge und Extremisten ins Land. Der Tayyip von früher hätte etwas dagegen getan, ist Topaloglu sicher. „Wenn er geblieben wäre, wie er war, wäre die Türkei nicht so schlecht dran.“

Prognosen

Vor der Wahl am Sonntag steht es nicht gut um Erdoğans Plan, eine Verfassungsmehrheit für die AKP im Parlament zu bekommen und so ein Präsidialsystem zugunsten seiner Macht zu kreieren. Die meisten Umfragen sehen die AKP nach wie vor unterhalb der Marke von 276 Mandaten, die eine Alleinregierung ermöglichen; für eine Verfassungsmehrheit braucht es 330 der 550 Sitze im Parlament.

Rund 41 Prozent für die AKP, 27 Prozent für die säkular-kemalistische CHP, 16 Prozent für die rechtsnationale MHP und zwölf Prozent für die Kurdenpartei HDP prophezeien die Institute. Das wäre dem Resultat der Juniwahl ähnlich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2015)

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