Türkei-Wahl. Die religiöse AKP von Präsident Erdoğan gewinnt überraschend und kann wieder allein regieren.
Die Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die vorgezogene Parlamentswahl in der Türkei klarer als erwartet gewonnen: Nach Resultaten vom Sonntagabend (Auszählungsrate 92 Prozent) kam die religiös-konservative Partei auf 49,7 Prozent der Stimmen und kann gemäß des Wahlrechts damit wieder allein regieren. Damit legte sie im Vergleich zur Wahl im Juni (41 Prozent) stark zu – offenbar v.a. zulasten der Nationalistenpartei MHP. Beobachter sprachen sogar von einem historischem Erfolg: Mehr als 50 Prozent hat die AKP selbst bei ihrem Erdrutschsieg 2011 nicht erreicht. „Die Leute machten sich Sorgen um die Stabilität“, so der Autor Mustafa Akyol.
Nach obigen Ergebnissen kommt die AKP im Parlament (550 Sitze) auf 318 Mandate. Damit ging die Strategie Erdoğans auf, der auch als formal parteiloser Präsident die Linien in Partei und Regierung setzt: Er hatte die AKP als Garant der Stabilität empfohlen. Die republikanisch-linke Oppositionspartei CHP, nach der AKP zweitstärkste Kraft, erreicht etwa 25?%, die nationalistische MHP etwa 11,9, die legale Kurdenpartei HDP 10,4 Prozent. Die HDP schnitt merklich schlechter ab als bei der Wahl im Juli (siehe Grafik). In der anatolischen Kurdenstadt Diyarbakir kam es am Abend zu Zusammenstößen zwischen Kurden und der Polizei. Auslöser waren Gerüchte, wonach die HDP unter zehn Prozent bleibe und nicht mehr ins Parlament komme.
Im Juni hatte die AKP die Absolute verloren. Erdoğan richtete die Partei neu aus und verfolgte v.? a. in der Kurdenpolitik einen harten Kurs. Im Juli begannen neue Kämpfe zwischen Militär und PKK-Kurdenrebellen. Nach Überzeugung von Kritikern wie CHP-Chef Kemal Kiliçdaroğlu hatte Erdoğan seine Hand im Spiel: Er, der in vergangenen Jahren durch Friedensverhandlungen mit der PKK rechte Wähler verprellt habe, wolle die AKP für Nationalisten attraktiver machen. Das zahlte sich jetzt aus: Viele MHP-Wähler seien zur AKP gewechselt, sagte der Journalist Nazif Okumus.
Belastung für Beziehungen mit der EU
Nun dürfte die Regierungsbildung schnell erfolgen, und Erdoğan wird dort die Zügel in der Hand halten. Gegner fürchten, dass sich der Druck auf Andersdenkende und regierungskritische Medien weiter erhöhen wird. Auch aufs türkisch-europäische Verhältnis kommen Belastungsproben zu. Zunächst steht die Publikation des jährlichen Berichts der EU über den Stand des demokratisch-wirtschaftlichen Reformprozesses an. Angeblich enthält er viel Kritik am autoritären Verhalten von Erdoğan und der AKP. Der Report ist seit Wochen fertig, wird aber zurückgehalten, um die Türken während der Gespräche über das Vorgehen in der Flüchtlingskrise nicht zu verärgern.
Die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, sagte der Türkei zudem die Öffnung eines neuen Kapitels in den EU-Verhandlungen vor Jahresende zu. Die Türkei aber will mehr Kapitel öffnen. Zündstoff bietet die geplante Übereinkunft in der Flüchtlingskrise. Im Gegenzug für bessere Grenzsicherung und Rücknahme von Flüchtlingen will Ankara den Visazwang für Türken für die EU loswerden. Das ist unter europäischen Staaten sehr umstritten.
In Österreich lebende Türken haben sich am Sonntag übrigens auch klar für die AKP entscheiden: fast 70 Prozent gaben der Erdoğan-Partei ihre Stimme.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2015)