Der Brandstifter, dem das türkische Volk vertraut

Der türkische Präsident Erdogan
Der türkische Präsident ErdoganAFP
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Der Triumph der AKP ist dem Kurden-Konflikt zuzuschreiben. Nun ist Erdoğan zuzutrauen, dass er auch ohne Zweidrittelmehrheit seine Ziele verfolgen wird.

Einen Tag nach den Parlamentswahlen in der Türkei ging zwischen all den lebhaften Wahlanalysen, Kommentaren und Zukunftsprognosen eine kleine Meldung unter: Die Terrortruppe Islamischer Staat (IS) hat die Verantwortung für den Tod zweier syrischer Journalisten übernommen, die in einer Wohnung im südtürkischen Şanlıurfa bestialisch ermordet wurden. Die beiden Opfer waren für das Nachrichtenportal Raqqa is Being Slaughtered Silently aktiv und haben unter höchster Lebensgefahr von den blutrünstigen Taten der IS-Schergen berichtet. Die Frage ist, ob diese Meldung ohne die Wahlaufregung mehr Aufmerksamkeit bekommen hätte. Vermutlich nur geringfügig, denn in Sachen Terror bleibt für die regierende AKP die verbotene kurdische PKK dauerhaft gefährlicher als der IS. Und zweitens werden in Medien, die von der Regierung kontrolliert werden, Meldungen wie diese eher vernachlässigt.

Und genau aus diesen beiden Gründen hat der religiös-konservative Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, bei den vorgezogenen Neuwahlen am Sonntag die absolute Mehrheit wieder erreicht. Im Vorfeld der Wahlen wurde ein aus demokratischer Sicht unerträglicher Druck auf die Medien des Landes ausgeübt, damit die Berichterstattung der AKP gefällt. Und der aufgeflammte Konflikt zwischen den Kurden und der Armee im Südosten des Landes hat Erdoğans Wahlslogan beeinflusst: „Nur wir bringen Stabilität, nur wir können die kurdischen Terroristen in Schach halten.“ Das Wahlvolk hat ihm diesen Leitspruch deswegen geglaubt, weil es tatsächlich die AKP war, die vor einigen Jahren den Friedensprozess mit den Kurden – und eine Phase der Stabilität – eingeleitet hat. Der Frieden ist zwar äußerst brüchig geworden, aber es ist immer noch mehr Frieden als das, was alle Vorgängerregierungen in den vergangenen drei Jahrzehnten zustande gebracht haben. Das Land hat vom schier endlosen Türken-Kurden-Konflikt mit zahllosen Opfern derart genug, dass selbst Erdoğan-Skeptiker für sein Versprechen gestimmt haben dürften.

Von Stabilität war dann auch in Erdoğans erstem Statement nach der Wahl die Rede, und davon, dass die Türkei ganz klar Nein zu Terror (gemeint ist die PKK) und Krieg gesagt habe. Seine Aussagen fassen den ganzen Wahlkampf zusammen: Erdoğans Triumph ist einzig und allein dem Kurden-Konflikt zuzuschreiben – die PKK hat ihm auch in die Hände gespielt. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass die Regierung schnellstmöglich Frieden herstellen muss, andernfalls droht die Stimmung endgültig zu kippen. Die AKP darf nun nicht den Fehler machen und sich auf der Sonnenseite wähnen: Erstens ist die Zivilgesellschaft so entschlossen wie nie zuvor, die Werte der Republik zu verteidigen, und zweitens wird mit der HDP eine prokurdische Partei im Parlament vertreten sein, die der Regierung genau auf die Finger schauen wird.


Es gibt unzählige Gründe, warum ein Polarisierer wie Erdoğan so viel Vertrauen genießt, trotz aller demokratiepolitisch beunruhigenden Maßnahmen der AKP-Regierung. Der wichtigste ist wohl: Erdoğan vertritt jene ländlich-religiöse Bevölkerung, die die Republik seit ihrer Gründung vernachlässigt hat. Die AKP hat dort noch immer eine starke Basis. Bei den Wahlen im Juni hat die Regierungspartei zwar die absolute Mehrheit verloren, aber mit 41 Prozent noch immer ein ordentliches Ergebnis eingefahren. Als Garant für Stabilität, wie sich Erdoğan gern präsentiert, hätte er eine Koalition mit der HDP oder der kemalistischen CHP bilden können, aber das war nie Teil seines Konzeptes. Bereits am Wahlabend schrieben die ersten Analysten, dass es zu Neuwahlen kommen wird. Erdoğan wird so lang wählen lassen, hieß es, bis er bekommt, was er will. Die Analysten sollten recht behalten.

Nun hat der Präsident, der noch immer die Parteizügel in der Hand hält, die absolute, aber nicht die Zweidrittelmehrheit, die er für das gewünschte Präsidialsystem aber braucht. Ihm ist zuzutrauen, dass er die Verfassungsänderung auch ohne Mehrheit durchzubringen versucht. Als Brandstifter hat sich Erdoğan mehr als einmal bewiesen, aber auch als Politiker, der immer noch das Vertrauen der Wähler erringen kann.

E-Mails an: duygu.oezkan@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2015)

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