Binnenmarkt als Quelle unseres Wohlstands

Nur alle vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarktes – Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit, freier Warenverkehr, freier Kapital- und Zahlungsverkehr – schaffen ein System, das allen beteiligten Seiten Nutzen bringt.

In den vergangenen Tagen ist hierzulande eine rege Debatte über den „starken Zuzug osteuropäischer Arbeitskräfte“ auf den österreichischen Arbeitsmarkt beziehungsweise über dessen Einschränkung entflammt. Da immer wieder die Rede von einem „Export der Arbeitslosigkeit“ ist und eine Notfallklausel gefordert wird, um „den österreichischen Arbeitsmarkt vor Menschen aus Osteuropa zu schützen“, möchten wir zur Versachlichung der Diskussion und einer ausgewogenen Darstellung über dieses Thema beitragen.

In Österreich lebten 2015 143.407 Personen aus den vier Visegrád-Staaten (V4), die sich im Rahmen der Personenfreizügigkeit in der EU hier niedergelassen haben, um hier zu arbeiten. Nicht alle haben die gewünschte Arbeit gefunden – 14.287 waren als arbeitslos gemeldet. Dies entspricht etwa der durchschnittlichen Arbeitslosenquote der Inländer.

Österreich profitiert

Tatsache ist, dass alle arbeitenden Personen – ob aus Österreich oder nicht – die gleichen Abgaben entrichten. Laut Sozialministerium haben die in Österreich arbeitenden Ausländer so 2015 4,5 Milliarden Euro ins österreichische Sozialsystem eingezahlt und nur knapp die Hälfte in Form von Sozialleistungen zurückbekommen.

Daraus folgt, dass Österreich im Großen und Ganzen für ausländische Arbeitnehmer und Arbeitslose nicht nur keine zusätzlichen Kosten zu tragen hat, sondern mit ihnen sogar Gewinn macht.

2015 wurden auch im Rahmen der Dienstleistungsfreizügigkeit 54.308 Arbeitskräfte aus den Visegrád-Staaten nach Österreich entsendet und weitere 2633 österreichischen Arbeitgebern überlassen. Diese Menschen waren meistens nur für kurze Zeit hier tätig. Aufs ganze Jahr gesehen, sind die Zahlen also viel niedriger.

Wer das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsort“ in Bezug auf entsendete und überlassene ausländische Arbeitskräfte einfordert, müht sich vergebens. In Österreich ist dies nämlich durch die verbindliche Anwendung der kollektivvertraglichen Lohnvorschriften auch bei diesen ausländischen Mitarbeitern gesetzlich vorgeschrieben und gilt als gelebte Praxis.

Im Falle von Missbräuchen unterstützen wir es selbstverständlich, dass solche Vorfälle – auch im Interesse unserer überwiegend regelkonform handelnden Arbeitnehmer und Firmen – konsequent sanktioniert werden. Den Vorwurf, dass „wir das nicht haben wollen, weil wir profitieren”, lehnen wir definitiv ab.

Administrative Hürden

Die geltenden administrativen Vorschriften übertreffen jedoch das eigentliche Ziel der Bekämpfung von Lohndumping bei Weitem. Sie können – ergänzt um die unverhältnismäßig hohen Strafen – als eine De-facto-Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit betrachtet werden. Zum ersten Opfer der Vorschriften kann der internationale Transportsektor werden, an den das neue Gesetz zur Lohn- und Sozialdumpingbekämpfung unzureichend angepasst ist.

Man darf auch nicht vergessen, dass österreichische Firmen genauso Mitarbeiter in andere EU- beziehungsweise EWR-Länder entsenden. Das Sozialministerium deutet etwa auf Deutschland als wichtiges Zielland im Bausektor hin. Insgesamt wurden 2014 49.000 Arbeitskräfte aus Österreich in EU-Staaten entsendet.

Nur alle vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarktes – Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit, freier Warenverkehr, freier Kapital- und Zahlungsverkehr – gemeinsam schaffen ein System, das der Wirtschaft und den Sozialpartnern auf allen Seiten nützt. Schränkt man nur eine der Grundfreiheiten ein, wird dies direkte Auswirkungen auf eine oder alle übrigen Freiheiten haben. Das könnte letztlich zum relativen Verlust der Konkurrenzfähigkeit von Firmen aus den beteiligten Ländern führen.

Bürger der mittelosteuropäischen Staaten profitieren vom EU-Binnenmarkt, indem sie in Österreich arbeiten. Zugleich sind sie im Rahmen des Binnenmarkts eine Profitquelle für Österreich. Betrachtet man etwa den freien Warenverkehr, dann hat Österreich allein 2014 Exporte im Wert von 14 Milliarden Euro in die V4 getätigt, was rund zwölf Prozent der gesamten österreichischen Exporteinnahmen entsprach. Dieser Export generierte in Österreich umgerechnet etwa 121.000 Arbeitsplätze. Der Export in die V4 hat sich in den vergangenen 20 Jahren vervierfacht.

Talent, Wissen und Arbeit

Mit großer Wahrscheinlichkeit werden die V4-Staaten auch in Zukunft zu den wichtigsten Wirtschaftspartnern Österreichs gehören. Dafür spricht nicht nur die geografische Nähe, sondern auch ihr stabiles – in der Tat durch EU-Fonds stark gefördertes – Wirtschaftswachstum.

Auch bei den Tourismuseinnahmen machen Gäste aus den V4 rund 8,1 Prozent aus. Dies entsprach 2014 fast 1,3 Milliarden Euro und generierte rund 27.000 Arbeitsplätze. Wenn man bedenkt, dass allein durch Exporte in die V4 und Tourismus aus den V4 hierzulande bis zu 148.000 Arbeitsplätze geschaffen wurden, muss Österreich weder befürchten, dass es draufzahlt noch dass es Arbeitsplätze verliert.

Hinzu kommt der freie Kapital- und Zahlungsverkehr, von dem Österreich in seinen Beziehungen zu den V4 profitiert. Das Einkommen, das in Österreich durch aktive Direktinvestitionen in den V4 generiert wurde, belief sich 2014 auf 3,3 Milliarden Euro und entsprach damit einem Prozent des gesamten österreichischen BIPs.

Österreich gewinnt aber noch auf andere Weise. Bei den in Österreich lebenden Personen aus den V4 handelt es sich um sehr gut integrierte, qualifizierte und im Vergleich zum Durchschnittsalter der Inländer um zehn Jahre jüngere Personen. Für die künftige wirtschaftliche Entwicklung Österreichs ist dies eine wichtige Gruppe, die ihre eigene Zukunft oft sowohl mit Österreich als auch mit ihren Herkunftsländern verbindet.

Es wird Österreich sein, das von Talent, Wissen und Arbeit dieser Menschen profitiert. In diesem Zusammenhang kann weder vom „Export der Arbeitslosigkeit“ noch von „einer Suche nach dem besten Sozialsystem“ die Rede sein.

So gesehen profitieren beide Seiten – Österreich wie die V4-Staaten, enorm von den vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes. Die Vorteile des gemeinsamen Austausches mögen als etwas Selbstverständliches erscheinen, müssen aber angesichts sich häufender Forderungen nach Ausnahmeregelungen in Erinnerung gerufen werden. Nur ein einheitlicher Binnenmarkt kann die Quelle unseres Wohlstandes sein.

Artur Lorkowski (geboren 1974) studierte Wirtschaftswissenschaften in Warschau. Seit 2010 arbeitet er im polnischen Außenministerium, seit 2013 ist er Botschafter Polens in Österreich.

Juraj Machá (geboren 1966) studierte an der Wirtschafts-Uni in Bratislava. 1993 Eintritt ins slowakische Außenministerium, seit 2012 Botschafter der Slowakei in Österreich.

János Perényi (geboren 1949) studierte Geisteswissenschaften und Geschichte an der Universität Uppsala. 1990 Eintritt ins ungarische Außenministerium, seit 2014 Botschafter in Österreich.

Jan Sechter (geboren 1968) studierte an der Landwirtschaftlichen Universität in Prag. Seit 1993 arbeitet er im tschechischen Außenministerium, seit 2013 tschechischer Botschafter in Österreich.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.01.2017)

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