ÖBB-Chef Kern kritisiert in Flüchtlingskrise Behörden

Christian Kern
Christian Kern(c) APA/HERBERT NEUBAUER (HERBERT NEUBAUER)
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Christian Kern bemängelt lange Diskussionen, wer wofür zuständig ist und wer was machen darf: „Wenn die Hilfsorganisationen ähnlich agiert hätten wie manche Behörden, dann hätten wir weit größere Probleme gehabt.“

Die ÖBB sind massiv in die Bewältigung des Flüchtlingsstroms eingebunden. Die Auswirkungen auf Mitarbeiter und Kunden sind gravierend. Wie sieht Ihre Bilanz aus?

Christian Kern: Das Gesamte war bisher eine positive Demonstration. Es hat gezeigt, was die Gesellschaft und die Institutionen zu leisten imstande sind. Auf Dauer betrachtet kann dieses Leistungsspektrum aber nicht aufrechterhalten werden. Das trifft nicht nur auf die Hilfsorganisationen, sondern auch auf Unternehmen wie die ÖBB zu. Wir können heute kaum mehr Lokführer oder Zugbegleiter dazu motivieren, zusätzliche Schichten zu übernehmen. Für uns ist es dennoch eine motivierende Übung, weil sich gezeigt hat, dass die Organisation ÖBB funktioniert und da ist, wenn es drauf ankommt.

Ihnen wurden Klagen wegen Untreue und Schlepperei angedroht. Haben Sie Angst davor?

Da mache ich mir überhaupt keine Sorgen. Die Frage ist ja, welche Alternative gibt es? Sollen wir die Leute im Freien stehen und nächtigen lassen? Und wie wollen wir dann überhaupt noch einen ordentlichen Bahnbetrieb aufrechterhalten?

Was ist mit den angeblich devastierten ÖBB-Garnituren?

Die Hauptkosten, die wir haben, sind für Reinigung und Ordnung der Flüchtlingsströme. Das ist nicht eine Frage von mangelndem Benehmen, sondern Konsequenz davon, wenn sich sehr viele Menschen auf engem Raum aufhalten und dann rasch den Standort wechseln. So etwas kommt auch bei uns vor. Wir hatten neulich einen Zug mit Fußballfans nach Wien. Der Railjet war schwer derangiert. Man soll das Problem nicht kleinreden und sagen, die benehmen sich sehr gut. Das tun beileibe nicht alle. Aber es ist nichts, was wir nicht auch von Menschen anderer Nationalität, auch unserer, kennen.

Werden die ÖBB mit ihren Problemen alleingelassen?

Nein, aber aus den Erfahrungen kann man Lehren ziehen. Das Wesen einer Krisenorganisation ist ja, dass man sagen muss, wer genau welche Aufgaben und Verantwortung hat. Im aktuellen Krisenmanagement haben wir uns sehr lang mit der Frage beschäftigt, wer wofür zuständig ist und wer überhaupt was machen darf. Wenn die Hilfsorganisationen ähnlich agiert hätten wie manche Behörden, dann hätten wir weit größere Probleme gehabt.

Das heißt, dass die offiziellen Stellen nicht gut koordiniert sind?

Wir haben es hier mit einem negativen Kompetenzkonflikt zu tun. Da drängt sich keiner gern vor. Und oft gibt es den Versuch, zu erklären, was alles nicht geht. Aber das ist keine Situation, in der du mit Dienst nach Vorschrift agieren kannst. Das ist ja das Wesentliche einer Krise. Du bereitest dich vor, und am Ende entsteht das Handeln aus der Notwendigkeit.

Wer übernimmt die Kosten, die den ÖBB entstehen?

Vorrangig ist, dass die Hilfsorganisationen, die Kredite aufgenommen haben, oder Privatpersonen, die etwas vorgeschossen haben, ihr Geld bekommen. Unsere Rechnung ist offen. Wir werden sehen, ob wir da etwas bekommen. Wir haben Umsatzeinbußen hinnehmen müssen, etwa um die 20 Prozent im Regionalverkehr in Salzburg.

Jetzt ist Budgetzeit. Welchen Aufwand aus dem Flüchtlingsthema rechnen Sie für 2016 Jahr ein?

Für heuer rechnen wir einmal mit einem Aufwand von 15 Millionen Euro. Da ist unerfreulich, aber es wirft uns nicht aus der Bahn.

Ihr Mitbewerber Westbahn hat wegen der vielen Flüchtlinge in den Bahnhöfen Wien und Salzburg einen Rabatt auf die Benützungsgebühren verlangt. Hat Sie das überrascht?

Was das Management der Westbahn macht, ist zumindest verhaltensoriginell. Aber ich möchte Hans Peter Haselsteiner in Schutz nehmen. Ich habe ihn als einen der großzügigsten Menschen kennengelernt. Ich weiß, dass er sein beachtliches humanistisches Engagement nicht vor sich herträgt, sondern hilft. Er ist in den sozialen Foren übel beschimpft worden. Das hat er nicht verdient, nur weil seine Geschäftsführung einen unsinnigen Vorschlag gemacht hat.

Aus Bayern gibt es Kritik, Österreich erweise sich als großer Schleuser. Dieser Vorwurf trifft auch die ÖBB.

Unsere Linie ist klar: Wir führen keine Menschen ins Niemandsland. Wir bringen sie in Quartiere, wo sie versorgt werden können.

Es hat Situationen gegeben, in denen die Schließung des Bahnhofs Salzburg zur Debatte stand. Wie haben Sie das verhindert?

Die Geschichte läuft nun seit 70 Tagen. Davon hat an 65 jemand gesagt, wir müssen den Salzburger Bahnhof sperren. Da gibt es schon eine große Aufgeregtheit. Doch so etwas verunsichert die Kunden, und eine Schließung hätte dramatische Folgewirkungen. Wir würden den Bahnverkehr in Westösterreich lahmlegen und einen Dominoeffekt für ganz Österreich auslösen. Innerhalb von wenigen Stunden würde kein einziger Zug mehr fahren.

Wie erleben Sie die offensichtliche Uneinigkeit der Regierung in der Flüchtlingsfrage?

Ich bemerke von allen Seiten ein großes Bemühen. Unsere Hauptsorge ist der Mangel an Quartieren. Da wünsche ich mir ein stringenteres Vorgehen.

Wie beurteilen Sie die Arbeit von Christian Konrad als Quartiermeister der Nation?

Konrad gehört zu jenen, die Erfolge aufzuweisen haben. Er hat sehr viel getan, aber man kann nicht erwarten, dass ein Einzelner die Probleme lösen wird.


Wie lang kann die Politik der Offenheit noch geführt werden?

Sie wird implodieren, wenn wir nicht genügend Quartiere auftreiben, wenn wir nicht Lösungen für die Integration finden, wenn wir als ÖBB unsere Dienstleistung nicht gut genug anbieten können.

Die Flüchtlingskrise drückt auch auf die Stimmung der Unternehmen. Trifft Sie das schwache Wachstum?

Unser wichtigstes Geschäftsfeld ist der Güterverkehr. Da sehen wir viele Fragezeichen. Wir haben eine ernsthafte Deindustrialierung in Europa. Die Stimmung im Land ist auch nicht gut. Ich hoffe, wir können mit unserem 14,5 Milliarden Euro schweren Rahmenplan bis 2021 etwas bewirken. So viel wurde von der Regierung nie für den Bahnausbau investiert. Wir bauen und sanieren 80 Bahnhöfe, 1000 Kilometer Gleis, 13.000 Park-and-Ride-Parkplätze, 6000 Abstellplätze für Räder und Motorräder, wir bauen drei große Tunnel und vier Güterterminals.

Trotz dieser Bemühungen rutscht das Land in seiner Wettbewerbsfähigkeit ab. Was läuft da schief?

Die vielen Einzelschritte und Detailreformen liefern kein Ganzes. Es fehlen uns das klare Profil als Standort und klare Zukunftsbilder. Die Digitalisierung wird die Art und Weise, wie wir arbeiten und leben, radikal verändern. Für Wirtschaft und Gesellschaft tun sich Grundsatzfragen auf, die wir nicht mit Rezepten der Vergangenheit lösen können. Wie bewerten wir Erwerbsarbeit, wer soll von gewaltigen Produktivitätssteigerungen profitieren, wie verhindern wir die Deklassierung Hunderttausender?

ZUM INTERVIEW

Christian Kern ist Chef der ÖBB, die die meisten der 500.000 Flüchtlinge, die in den vergangenen Wochen durch Österreich gereist sind, transportiert haben. Das Interview ist von Rainer Nowak mit den Chefredakteuren der Bundesländerzeitungen geführt worden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2015)

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