Musik, auf Knall und Fall autonom

Bedroht der Markt die Autonomie der Kunst? Wird Wien Modern bald zu Wien Postmodern? Electric Indigo stellt Fragen.
Bedroht der Markt die Autonomie der Kunst? Wird Wien Modern bald zu Wien Postmodern? Electric Indigo stellt Fragen.(c) Markus Sepperer/Wien Modern
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Wien Modern wurde mit Boulez' rätselhaft schöner Verschränkung von Avantgarde und Symbolismus sowie Electric Indigos Gedanken zur vom Markt bedrohten Autonomie der Kunst eröffnet.

Mit einem dramatischen Orchesterschlag beginnt „Pli selon pli“, und genauso auf Knall und Fall endet das bedeutendste und umfangreichste Werk von Pierre Boulez auch. Dazwischen liegen gut 70 Minuten Musik von immer wieder rätselhafter, entrückter Schönheit und zugleich kühler Hermetik, angeregt von der Lyrik Stéphane Mallarmés und mit ständiger Rücksicht auf ihn und sein Streben nach formaler Reinheit komponiert: In den drei Mittelsätzen trägt die Singstimme, von wechselnden Ensembles umflort, je ein Sonett in überhöhter Expressivität vor. Boulez nennt sie „Improvisations“ – eine ironische Bezeichnung, wenn man bedenkt, dass der Perfektionist nur eine in ihrer Urgestalt (von 1957) belassen hat: Gut Ding braucht Weile.

„Falte um Falte“, wie der Titel nahelegt, porträtiert Boulez den symbolistischen Dichter auf passend elliptische Weise, umrahmte die Improvisationen noch mit orchestral dominierten Sätzen: vorausahnend der erste, zusammenfassend der letzte. Und er verrät bei dem Ganzen auch viel über sich selbst und sein eigenes Kunstverständnis – über Jahrzehnte hin: Die Entstehungsgeschichte von „Pli selon pli“ sollte sich schließlich bis 1989 erstrecken.

Die singende, klingende Sphinx

Die ohnehin schwer fasslichen, sphinxhaften Verse Mallarmés verschwinden in dem Werk zweifach: einmal, wenn sich der Sopran von den Fesseln der Wortdeutlichkeit und scheinbar auch der Schwerkraft befreit. Immerhin kann der Klang der puren Arabesken mehr über deren geheimen Sinn verraten als die rationale Bedeutung. Und ein anderes Mal, wenn dort, wo die einsame Stimme lange schweigt, die unausgesprochenen Worte direkt in der schillernden Musik aufgehen. Grandios, wie Marisol Montalvo über den ganzen Abend die Spannung hielt, auswendig sang, auch in den Pausen präsent blieb, stets souveräne Konzentration und Hingabe ausstrahlte. Und wie geschmeidig sie die manchmal doch recht zerklüfteten, bis in unbarmherzige Höhen hinaufgeschraubten Gesangslinien formte: fleischiger, sinnlicher, mit mehr Vibrato als etwa die instrumentaler klingende Christine Schäfer in Boulez' letzter Aufnahme des eigenen Werks.

Das ORF-Radio-Symphonieorchester Wien unter Cornelius Meister schmiegte sich rasselnd und klappernd, aber auch glitzernd und immer wieder anmutig zart an sie an – ein fulminanter Auftakt zu Wien Modern 2015. Wobei eine Eröffnung ausgerechnet mit dem opus magnum des großen alten Mannes der Avantgarde Schmunzeln verursachen kann bei einem Festival, dem der scheidende Leiter, Matthias Lošek, heuer das Motto „Pop. Song. Voice“ gegeben hat und bis 28. 11. zudem ungefähr 30 Komponistinnen ins Rampenlicht bittet.

„Pli selon pli“: War das nun elitäre Kunst für Eingeweihte, wie es gerade für die Neue Musik typisch sein soll?  Komponistin, DJ und Musikerin Susanne Kirchmayr aka Electric Indigo hatte zuvor in ihrer Eröffnungsrede die Perspektiven etwas zurechtgerückt und nicht nur angenehme, hehre Parallelen gezogen zwischen Elementen von auch avanciertem Pop und der sogenannten Hochkultur: Exklusivität und Ausgrenzung von Unkundigen (bis hin zur strengen Türpolitik der coolsten Clubs) seien da wie dort gang und gäbe; nicht nur das Wissen, auch der Zugang zur Kunst sei eine Funktion von Macht. Und: „Je elaborierter und verfeinerter die ästhetische Sprache und die Strukturen einer Subkultur sind, desto elitärer und im Regelfall auch männlich-weiß-patriarchalischer gestaltet sie sich.“

Die Öffnung des Elfenbeinturms

Umgekehrt sieht Kirchmayr die Öffnung des alten Elfenbeinturms mittels „volkstümlicher Versatzstücke aller Art“ (Mundart, Cartoons, Porno und Hollywood) in verdächtiger Gleichzeitigkeit zum Neoliberalismus seit 1980 – und schloss mit der fast wehmütig-ironischen Pointe, dass aus Wien Modern mit Pop und gerade dem kommerziell definierten Song nun wohl „Wien Postmodern“ geworden sei. Aber da wird Bernhard Günther ein Wörtchen mitzureden haben, der Lošek 2016 beerbt: Es bleibt spannend.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2015)

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