Als tapfere Menschen noch Panzer aufhalten konnten

(c) Schauspielhaus/ Matthias Heschl
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Die deutsche Erstaufführung von Chris Thorpe im Wiener Schauspielhaus ist anspruchsvoll: Vier Menschen erzählen Schlüsselerlebnisse.

Man könnte das Stück „Möglicherweise gab es einen Zwischenfall“ als eine Serie komplexer Miniaturen bezeichnen. Menschen denken über Ereignisse nach, bei denen sie zu radikalen Entscheidungen gezwungen wurden: Ein Flugzeug geht bei der Landung zu Bruch, eine Demonstration bringt ein Regime zu Fall, ein Mann tritt aus der Menge und versucht, eine Panzerkolonne aufzuhalten, ein anderer Mann entwaffnet einen Attentäter, der serienweise junge Leute umgebracht hat, und verletzt sich dabei schwer.

Die Situationen haben außer ihrer existenziellen Bedeutung nichts miteinander zu tun, der britische Dramatiker Chris Thorpe, ein neuer Star der Off-Bühnen seines Landes, hat sie jedoch zu einem anspruchsvollen Stück verwoben, das fast nicht vom Spiel, sondern vorwiegend von der Sprache lebt. Es wurde 2013 beim Edinburgh Fringe Festival uraufgeführt. Marco Štorman hat es nun fürs Schauspielhaus in der Übersetzung von Katharina Schmitt inszeniert. Am Freitag gab es in Wien die deutsche Erstaufführung (zeitgleich mit einer weiteren Premiere am Saarländischen Staatstheater in Saarbrücken). Der neue Direktor, Tomas Schweigen, Nachfolger des nach Basel avancierten Intendanten Andreas Beck, setzt auch in seiner zweiten Produktion auf fast ganz Neues.


Massaker. Die siebzig Minuten verlangen wegen der Textmenge viel Konzentration, sind nicht frei von Pathos und wirken manchmal ziemlich nebulos, doch zugleich entwickelt dieses Drama einen seltsamen Sog und wird auch von den drei Darstellern mit beträchtlichem Talent und großer Konzentration gespielt. Sie zeigen freundlich diskret ein „well made play“ der nachdenklichen Art.

Die Bühne befindet sich dort, wo sonst der Zuschauerraum ist, Balkon und Fenster zur Technik sind ins Bühnenbild von Anna Rudolph sozusagen eingebaut. An drei Schreibtischen sitzen Steffen Link, Sophia Löffler und Vassilissa Reznikoff. Link erzählt vom „Tank Man“. Der erinnert an jenen chinesischen Dissidenten, der sich 1989 nach dem Massaker, welches das KP-Regime auf dem Platz des Himmlischen Friedens angeordnet hatte, allein den Panzern entgegenstellte, sie kurz aufhielt. Die Armee hat wahrscheinlich Tausende getötet, doch die Geschichte gehört vor allem dem Foto des Tapferen.


Amok. Diese Geschichte verknüpft sich mit jener einer Flugzeugkatastrophe, die Reznikoff erzählt. Einer Passagierin gelingt es nicht, ein Kind aus dem Wrack zu befreien. Und Löffler personifiziert eine Politikerin, die einst am Sturz eines Diktators beteiligt war, an die Macht gespült wurde, inzwischen selbst vor Demonstranten steht und Gewalt anordnet. Bukarest, Kiew oder Belgrad könnten Vorbilder sein. Alle drei Darsteller beteiligen sich zudem (meist im Off via Screen) an einem Verhör, in dem sich ein Amokläufer für seine Untat rechtfertigt. Der Fall erinnert (nur zum Teil) an jenen des Norwegers Anders Breivik, der 2011 in Oslo und auf Utøya 77 Menschen ermordete, die meisten Jugendliche.

Thorpe beschreibt Extremsituationen, bei der Inszenierung in Wien werden diese nur verhalten angedeutet, auch mithilfe einiger Videos. Mysteriös: Reznikoff wird einmal kurz an die Wand geklebt. Die Schauspieler vermitteln sparsam im Mienenspiel und vor allem mittels ihrer Stimmen, wie die Betroffenen diese Lasten aus der Vergangenheit zu bewältigen versuchen. Eine gute Stunde hört man ihnen gespannt, interessiert oder zumindest geduldig zu.

Bis 27.12.; schauspielhaus.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2015)

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