Alexijewitsch: „Ein großes Imperium, vor dem die Welt Angst hat“

Swetlana Alexijewitsch
Swetlana Alexijewitsch(c) imago/Metodi Popow
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Die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch im Interview über die Gewaltspirale in der Ukraine, den Schockzustand der Intelligentsia und die Anziehungskraft Wladimir Putins.

Zuerst hat Russland die Krim völkerrechtswidrig annektiert, dann mit der Aggression gegen die Ukraine im Donbass begonnen und nun haben wir die Luftangriffe in Syrien. Ist das Zusammenleben mit Russland in Frieden noch möglich?

Swetlana Alexijewitsch: Was Putin in Syrien vom Zaun bricht, hat niemand erwartet. Aber aufgepasst, in der Ukraine ist es nur ruhig um diesen Konflikt geworden, dieser Krieg ist noch nicht beendet und kann jederzeit zurückkehren. Die Welt befindet sich in einer sehr schwierigen Situation.

Weshalb regt sich dagegen in Russland kaum Widerstand?

Die Intelligentsia befindet sich in einem Schockzustand, sie kann das alles nicht verstehen. Und das Volk unterstützt leider tatsächlich Putin. Vor Kurzem war ich in Sibirien, und was ich dort erlebt habe, hat mich erstaunt. In den Städten trifft man noch Leute, die Angst vom Krieg haben, aber sobald man an die Ränder der ehemaligen UdSSR fährt, fürchtet sich niemand mehr vor dem Krieg. Alle sind einfach glücklich, dass wir endlich wieder ein großes Imperium sind, vor dem die Welt wieder Angst hat.

Beginnt damit nun eine neue Gewaltspirale?

Das fürchte ich. Gerade war ich in der Ukraine und habe mit Flüchtlingen gesprochen, die ihre Häuser verlassen mussten und nun zurück in den Donbass wollen, um dort gegen die Russen zu kämpfen. Das kann man verstehen, aber für mich ist Gewalt eine dunkle Macht. Niemand kann abschätzen, wie das alles enden wird.

Was kann der Westen tun? Halten Sie Sanktionen für den richtigen Weg?

Mit Sanktionen zu antworten, ist eine eigenartige Entscheidung. Aber eine andere Variante vermag ich nicht zu erkennen. Außer Sanktionen sehe ich keine Möglichkeit, denn wenn der Westen auch in den Waffengang einsteigt, haben wir den Dritten Weltkrieg.

Bisher hat die Geschichte jedoch gezeigt, dass die Russen bereit sind, für den Sieg ihrer Idee zu hungern und zu sterben. Wie sollen da Sanktionen etwas bringen?

Das stimmt, deshalb ist es auch mit den Sanktionen ein Kreuz. 35 Prozent der Russen haben kürzlich auf die Frage, ob sie bereit seien, für Putins Idee eines Groß-Russlands selbst zu sterben oder Frau, Kinder und die Verwandten zu opfern, mit Ja geantwortet. Dies ist die Folge einer ideologischen Gehirnwäsche.

Ist daran der kommunistische Kult vom „roten Menschen“, dessen Ende Sie in der Originalversion Ihres neuesten Buches im Untertitel erwähnen, schuld? Oder reicht dies alles viel tiefer zurück bis in die Zarenzeit?

Der imperiale Traum ist in jedem Russen lebendig. Der entscheidende Faktor ist hier jedoch jener „rote Mensch“. In den 1990er-Jahren dachten wir Demokratieaktivisten, der Kommunismus sei weg, überwunden. Wir dachten, er werde nie mehr auferstehen. Doch das stellte sich als Trugschluss heraus. Wieso? Der „rote Mensch“ glaubte an große Ideale und an ein neues Leben. Für die neue demokratische Zeit gab es keinen intellektuellen Überbau. Bei Putin gibt es das nun wieder. Putin ist zudem dauernd im Fernsehen zu sehen, man zeigt, was er tut, und weshalb er es tut. Putin bietet den Menschen eine Erklärung, bearbeitet sie, erläutert ihnen seine Weltsicht. Wir Demokraten haben dies alles unterlassen.

Im Buch „Secondhand-Zeit“ beschrieben Sie, wie schnell die Wende über die Bürger der UdSSR hereinbrach und welche Traumata dies zur Folge hatte...

Das Volk wurde beraubt. Es fühlt sich erniedrigt und betrogen. Die Menschen wurden aggressiv. Ich konnte dies während meiner Reisen feststellen, die ich über Jahre hinweg für dieses Buch unternahm. Damals dachte ich, dass das bestimmt schlimm enden wird. Doch meine Freunde sagten: „Nein, wir sind doch auf dem demokratischen Weg, alles wird gut sein.“ Doch es kam anders.

Ist der Grund für diese Aggression im „roten Menschen“ verankert?

Klar! Alle haben mir erzählt, dass sie früher im Sozialismus geachtet wurden. In der Arbeit, überall, wurde ideologisch eingetrichtert, dass der „rote Mensch“ ein wichtiger Mensch dieses Sowjetstaates sei.

Meinen Sie mit dem „roten Menschen“ den Homo sovieticus?

Ja, genau. Aber mir gefällt das Wort Homo sovieticus nicht. Wissen Sie, mein Vater war ein überzeugter Kommunist, alle meine Verwandten lebten in dieser Welt des „roten Menschen“. Der Ausdruck Homo sovieticus klingt kalt, so kann ich sie nicht benennen. Denn sie sind alle einfach verloren, weil sie alle viel Tragisches in ihrem Leben durchmachen mussten. Hinter jedem „roten Menschen“ war eine schöne „rote Idee“, ein Ideal. Und ich habe 37 Jahre lang über diese Leute geschrieben – wie sie lebten, wie sie litten, was sie dachten und wie das alles zusammengebrochen ist.

Der „rote Mensch“ ist in Russland also nicht gestorben. Gilt das auch für die Ukraine nach der Maidan-Revolution?

Der „rote Mensch“ bevölkert den ganzen postsowjetischen Raum. Es ist nicht so, dass sich das an einem Tag ändert: Heute bist du ein Kommunist und morgen legst du das alles ab. Die Leute wurden in diesem System erzogen. Alle haben dieselben Bücher gelesen und sind mit diesen Idealen aufgewachsen.

Das Ende des „roten Menschen“ ist also nicht eine Generationenfrage?

Die jungen Ukrainer wollen natürlich ein neues Leben. Sie wollen nun die Überwindung dieser Zeit des „roten Menschen“, vor allem nach all den Erzählungen ihrer Freunde von den Maidan-Toten. Aber der Staat siegt noch nicht gegen die Oligarchen, gegen diese Geißel. Staatspräsident Petro Poroschenko versucht das nun. Aber das ist sehr schwierig und sehr komplex. Der Maidan hat vieles verändert. Zur Ehrenallee der Maidan-Opfer in Kiew pilgern verschiedene Leute jeden Alters, auch Kommunisten, und sie sagen mit Stolz: Ja, wir sind bereit, dafür zu sterben, wir sind dafür gestorben, wir wollen ein anderes Leben, wir wollen in Freiheit leben!“

Sind Sie optimistisch, dass dies der Ukraine gelingt?

Der Wille ist da, aber die internationale Staatengemeinschaft muss der Ukraine

dabei helfen. Wenn die Ukraine beginnt, wirklich besser zu leben, gewinnt sie diesen Krieg. Das ist viel mehr wert als ein militärischer Sieg gegen die Russen im Donbass.

Wann haben Sie den „roten Menschen“ in sich selbst überwunden?

Bei mir ist dies während des Afghanistan-Kriegs (1979–1989, Anm.) geschehen. Für mich starb dort die Idee des Sozialismus. Mein Vater war Schuldirektor. Er glaubte an all diese Ideale und hat mich in diesem Sinn erzogen. Er und seine Freunde waren gute Menschen. Sie waren glaubwürdig, denn sie hatten nichts davon. Das waren alles einfache Leute. Für mich war die Verabschiedung von diesen Idealen ein schwieriger, sehr langer Prozess.

Gibt es ein einschneidendes Erlebnis, das Ihre Zweifel genährt hat?

Als ich das Buch „Zinkjungen“ über den Afghanistan-Krieg schrieb, bin ich dort hingefahren und habe gesehen, was russische Soldaten dort Schlimmes tun. In einem Spital sah ich Kinder und Frauen ohne Beine. Ich habe einer Frau ein Spielzeug gegeben, sie hatte ein Kind an der Brust. Mit Erschrecken merkte ich, dass es weder Händchen noch Beinchen hatte. Ich war so schockiert! Sie sagte mir: „Das haben deine Russen gemacht! Die sowjetischen Hitlerfaschisten.“ Das ist eine der Episoden, die mich zur Selbstbefreiung getrieben haben. Nachdem ich dieses Buch (Ende der 1980er-Jahre, Anm.) geschrieben hatte, war ich vollständig befreit.

Die Helden Ihrer Bücher sind öfter Frauen als Männer. Und oft sind das sehr lebenstüchtige Frauen. Weshalb sind die Frauen im postsowjetischen Raum so besonders stark?

Die Männer verstehen nur, Kriege zu führen. Das ganze Land haben schon immer die Frauen getragen, die Kinder haben sie größtenteils allein aufgezogen. Nach der Wende sind die Männer sitzen geblieben und haben geklagt, dass sie die Arbeit verloren haben, die Frauen aber haben etwas Neues gelernt und die Familien am Leben erhalten. Sie sind mit diesen bunt gemusterten Taschen durch die ganze Welt gefahren, haben Ware getauscht, verkauft und als Händlerinnen Geld verdient.

Hat der Kult des „roten Menschen“ die Frauen in Russland so stark gemacht?

Nein, die Frauen waren immer stärker. Das ist mir klar geworden, als ich mein erstes Buch „Der Krieg hat nichts Weibliches“ über Sowjetfrauen im Zweiten Weltkrieg schrieb. Millionen von Frauen zogen bei uns in den Krieg und starben. Das ist einzigartig in der Menschheitsgeschichte. Die russische Frau ist ein sehr starker Mensch!

Ihr nächstes Buch handelt von der Liebe. Ist sie im postsowjetischen Raum denn anders als im Westen?

Ich weiß es nicht, ich habe es noch nicht herausgefunden, ich habe nicht lang genug bei euch gelebt (lächelt). Ich habe mich weit über 30 Jahre mit dem „roten Menschen“ befasst, habe darüber eine Enzyklopädie aus fünf Büchern geschrieben und nun entschieden, mich existenziellen Themen zuzuwenden, das heißt der Liebe und dem Tod. Doch zum Wesentlichen vorzudringen ist sehr schwierig. Bei euch ist das Leben ein anderes. Natürlich gibt es Gemeinsames: Überall weinen die Frauen, wenn sie betrogen und verlassen werden.

Was lernen wir in diesem neuen Buch über die Russen, Ukrainer und Weißrussen?

Ich weiß es noch nicht. Im Moment sammle ich erst das Material.

Könnte dieser Nobelpreis Ihre Arbeit zusätzlich erschweren? Wenn Sie so berühmt sind, könnte Ihre Unmittelbarkeit im Kontakt mit den Menschen abhandenkommen.

Ich hoffe sehr, dass das nicht eintrifft. Ich hatte ja schon früher wichtige internationale Auszeichnungen. Immer wenn ich zu den Leuten gehe, gehe ich nicht als große Schriftstellerin, sondern als einfacher Mensch, der sich unterhalten und etwas erfahren will, nicht nur über den Krieg, sondern vor allem über das Leben.

Seit Kurzem leben Sie wieder in Minsk.

Sobald das möglich war bin ich gleich aus dem Exil zurückgekehrt. Als Aleksander Lukaschenko wieder damit begann, mit dem Westen zu spielen, und es damit in Weißrussland etwas leichter wurde, kehrte ich zurück.

Waren Sie der Freiheit überdrüssig? Fehlte Ihnen die Diktatur? Ist ein Autoritarismus, wie ihn Lukaschenko pflegt, Ihrer Literatur gar indirekt förderlich?

Nein, ich brauche keine Diktatur. Aber ich sehnte mich immer nach Hause, ich wollte nie in Westeuropa bleiben. Und mein literarisches Genre verlangt danach, mit den Leuten zusammenzuleben, täglich mit ihnen zu sprechen, mit ihnen zu feiern und zu tanzen.

Welches Ziel verfolgt Ihre Literatur? Wollen Sie etwas verändern?

Ich will darüber schreiben, wer wir waren und was mit uns passiert ist. Ich will über diese schreckliche Erfahrung erzählen. Denn die Idee des Kommunismus ist nicht tot. Sie lebt weiter. Und ich will zeigen, wie diese Idee nun in Russland umgesetzt wird und was sie bewirkt.

Steckbrief

Sowjet-Ära
Swetlana Alexijewitsch trägt die Geschichte der Sowjetunion tief in sich. Sie wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, 1948, im westukrainischen Iwano-Frankiwsk als Tochter eines Weißrussen (eines Dorflehrers) und einer Ukrainerin geboren, schreibt und spricht aber Russisch. Erst zum Journalistikstudium zog sie nach Minsk. Sie arbeitete zuerst als Reporterin bei Zeitschriften.

Kritikerin Lukaschenkos
1983 begann sie ihre monumentale Enzyklopädie des sowjetischen Alltags, die bisher sechs Bücher umfasst. Ihr von Oral History beeinflusstes literarisches Verfahren vergleicht sie selbst mit der Komposition einer Symphonie. Auf Deutsch sind bisher „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ (1985), „Zinkjungen. Afghanistan und seine Folgen“ (1989), „Im Banne des Todes. Geschichten russischer Selbstmörder“ (1993), „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ (1997), „Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg“ und ihr bisher größtes Werk „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ (2013) erschienen.

Zehn Jahre lebte sie in Deutschland, Frankreich, Italien und Schweden. Vor zwei Jahren kehrte Alexijewitsch nach Minsk zurück. Ihre Bücher müssen im Ausland erscheinen, denn sie gilt als eine der schärfsten Kritikerinnen des Autokraten Alexander Lukaschenko.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2015)

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