Die letzten Zeitzeugen werden immer stärker zelebriert, auch aus Angst? Der Band „Witness“ etwa zeigt eindrucksvolle Fotoporträts aus Wien geflüchteter Juden.
Ich habe mir schon einige Zeit überlegt, was das eigentlich bedeuten soll, ein Zeitzeuge, eine Zeitzeugin zu sein, schreibt Hanna Papanek im Buch „Witness“. „Bedeutet das, wenn wir Zeitzeugen der Nazizeit alle weg sind, dass auch die Erinnerung an diese Zeit verschwindet?“ Hanna Papanek ist eine von 16 in die USA emigrierten Juden und Jüdinnen, die der Fotograf Meinrad Hofer besucht und im Buch „Witness“ porträtiert hat. Und zwar zunächst von hinten. Man sieht ihre Gesichter nicht, und damit auch nicht ihre Individualität, sie drehen einem den Rücken zu, wie sie es einst gezwungen wurden, zu tun. Dann erst sieht man sie von vorn, sie sehen einen an; doch schon wenden sie den Blick im nächsten Porträt wieder ab, zu Boden, zur Seite . . . Die Komposition dieser großartigen Porträts allein schon erzählt eine Geschichte der ambivalenten Gefühle, über die auf den Bildern dargestellten Menschen wie über ihre Betrachter. In Verbindung mit den Erzählungen der Porträtierten macht der Band auch Zeit spürbar: Jedes Fältchen, jedes Zeichen vergehenden Lebens hat die Kamera eingefangen, während die Geschichten der Überlebenden vom Kind erzählen, das sie einst waren, im Wien der Dreißigerjahre, dann in den USA. Bis auf Hanna Papanek sind alle Porträtierten aus Österreich geflohen.
Erst die Freunde weg, dann das Fahrrad
Es sind andere Erinnerungen als die der damals Erwachsenen. Der eine erzählt vom geliebten Fahrrad, das ihm genommen wurde („ein Jude braucht kein Fahrrad“), der andere von der durch den Anschluss verhauten Geburtstagsfeier (weil die Eltern nicht vom Radio weggingen). Auffällig auch, wie glücklich das Leben als Kind in Wien von mehreren geschildert wird; immer wieder werden die vielen Verwandten erwähnt, in deren Kreis man sich wohlbehütet fühlte. In einer Erzählung heißt es: „Die Zeit verging sehr glücklich, bis zu einem Sabbat im März 1938“ – dem Abend des 11. März, dem Vorabend des Einmarsches deutscher Soldaten.
Alle die hier Porträtierten werden in den kommenden Jahren sterben, sie zählen zu den „Letzten Zeugen“, wie sie das Burgtheater vor zwei Jahren in einer Produktion zum Jahrestag der „Reichskristallnacht“ pathetisch nannte. In dieser Mischung aus Theaterinszenierung, Lesung und Ehrung stand ein Überlebender nach dem anderen auf, sobald er seine Geschichte fertig erzählt hatte, zurück blieben die leeren Sessel.
Auch an den Besuchergruppen, die das Wiener Jewish Welcome Service empfängt, merkt man, wie die Überlebenden wegsterben. Der 1980 gegründete Verein sollte den Kontakt zwischen geflohenen oder vertriebenen Juden und Wien erneuern, unter anderem durch Einladungen Überlebender und ihrer Nachkommen. 2014 waren es noch zwei Gruppen, heuer war es nur noch eine.
Wie erzählt man von den Erzählenden, und wie glaubwürdig sind ihre Erzählungen – ja, was heißt hier überhaupt Glaubwürdigkeit? Die Authentizität der Zeitzeugen-Geschichten wurde allzu oft im Sinn historischer Tatsachentreue verstanden und verbreitet. Dabei gehören Subjektivität und „deformierte“ Erinnerung zu diesem Genre; je mehr Zeit seit den Geschehnissen vergangen und je mehr Emotion im Spiel ist, desto mehr.
Vom Zeugen der Zeit zum Zeitzeugen
Deswegen mahnten viele Historiker, solche Berichte nur in Verbindung mit anderen Quellen auszuwerten. Einer der ersten Historiker, der den Erzählungen von Überlebenden in der Geschichtswissenschaft breiteren Raum gab, war der in Israel lebende Historiker Saul Friedländer („Das Dritte Reich und die Juden“), dessen Eltern in Auschwitz umkamen, während er selbst versteckt in Frankreich überlebte. Friedländer wollte, was andere Historiker peinlichst vermieden, weil sie Verzerrungen der historischen Wahrheit befürchteten: nicht nur Wissen über den Nationalsozialismus vermitteln, sondern auch Emotionen. Alles andere schien ihm angesichts des Geschehenen unangemessen.
Friedländer forschte in den 1980er-Jahren, und sein Zugang löste Diskussionen, auch starke Kritik aus; den Siegeszug der oral history im Bereich der NS-Geschichte konnten diese nicht aufhalten. Tausende Überlebende, die jahrzehntelang aus Schmerz und Scham geschwiegen hatten, redeten nun. Dass die Zeitzeugen erst seit dem Ende der 1970er-Jahre wichtig wurden, und zwar eben jene des Nationalsozialismus (später spielte der Begriff auch bei der Aufarbeitung der DDR-Geschichte eine wesentliche Rolle), zeigt sich auch daran, dass der Begriff Zeitzeuge bis dahin kaum verwendet wurde. Stattdessen sprach man von Zeugen ihrer Zeit, von Zeugen der Zeit.
Claude Lanzmanns neunstündiger Dokumentarfilm „Shoah“ von 1985, in dem ausschließlich Zeitzeugen interviewt werden, war ein Meilenstein, Steven Spielbergs in den 1990er-Jahren gegründete Shoah Foundation, die möglichst viele Interviews mit Überlebenden führte, ein weiterer. Längst ist genug Erinnerung festgehalten, die man weitertragen kann, auch wenn der letzte Zeuge, die letzte Zeugin verstorben ist – ein Abschied, den der Band „Witness“ auch ästhetisch vollzieht; man weiß nicht, ob die Gesichter aus dem umgebenden Dunkel auftauchen oder ob sie dabei sind, dorthin zurückzusinken.
Die Geschichte des Nationalsozialismus „erkalte“ mit dem Tod der Zeitzeugen, werde abstrakt, meinen manche wie etwa der deutsche Soziologe Harald Welzer. Das muss nicht sein – auf jeden Fall aber drückt sich in dieser Prophezeiung eine verbreitete Angst aus. Wohl auch deswegen ähnelt der Umgang mit den Zeitzeugen in den letzten Jahren immer öfter einem religiösen Ritual, sie werden zelebriert wie früher nur die ermordeten Opfer des Nationalsozialismus. „Kathartisches Erleben“, einen „Prozess des Erhabenen“ etwa sollte das Projekt „Die letzten Zeugen“ in der Burg in Gang setzen, die Gesichter der auftretenden Zeugen wurden überlebensgroß auf Video gezeigt. Auch im Band „Witness“ wirken die Porträtierten wie monumentale lebende Mahnmale, aber auch wie eine Art Schutzgötter – gegen die Dämonen des Vergessens.
ZUR PERSON
„Witness“ von Meinrad Hofer (Kehrer Verlag): Buchpräsentation und Vernissage in Kooperation mit dem Jewish Welcome Service am Dienstag, 10. November, um 19 Uhr im Theater Nestroyhof, Nestroyplatz 1, 1020 Wien. Zwei Zeitzeuginnen aus dem Band werden anwesend sein, Trudy Jeremias und Lisl Steiner. Die Ausstellung ist bis Mitte Dezember im Nestroyhof zu sehen, wochentags von 10 bis 16, und an Veranstaltungstagen bis 23 Uhr. [ Meinrad Hofer ]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2015)