Der Tag an dem sich die Schweizer selbst besiegten

Le duc Leopold Ier d Autriche seigneur de Habsbourg sauve par un de ses accompagnateurs lors de la
Le duc Leopold Ier d Autriche seigneur de Habsbourg sauve par un de ses accompagnateurs lors de la(c) imago/Leemage (imago stock&people)
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Vor 700 Jahren wurde Herzog Leopold von Habsburg am Morgarten von zahlenmäßig unterlegenen Schwyzern besiegt – angeblich. Denn die mythische erste "Befreiungsschlacht" fand so wohl nie statt.

Seit Monaten wird in der Schweiz gefeiert, immerhin jähren sich in diesem Jahr gleich mehrere historische Ereignisse. Man gedenkt der Schlacht am Morgarten (1315), der Eroberung des Aargau (1415), der Schlacht bei Marignano (1515) und feiert die Neutralität seit dem Wiener Kongress (1815). Insbesondere das erstgenannte Datum sorgt für Jubel, sodass vom 19. bis 21. Juni am Morgarten im Ägerital sogar ein Volksfest abgehalten wurde. Nun, am 15. November, schließt sich der Reigen. Eine Frage aber bleibt offen: Fand die mythische Schlacht tatsächlich statt?

Neben eindeutigen schriftlichen Aufzeichnungen – die meisten Chroniken wurden erst Jahrzehnte oder Jahrhunderte nach dem eigentlichen Kräftemessen verfasst – fehlen auch archäologische Funde, wie gespaltene Schädel, gebrochene Hüften, Waffen und Münzen. Und: Es mangelt an einem konkreten Ort, an dem am 15. November 1315 die Schwerter gekreuzt wurden. Letzterer Punkt sorgte 1908 sogar für Unstimmigkeiten zwischen den Kantonen Schwyz und Zug, die sich um den Aufstellungsort eines Schlachtendenkmals stritten.

>> Interview mit Historiker Teuscher: "Morgarten ist nach rechts abgerutscht"

„Es ist oft so in der Geschichte des Mittelalters, dass wir sehr dünne Quellenlagen haben“, sagt Simon Teuscher, Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich. Allerdings: „Ich würde sagen, es ist vieles in den herkömmlichen Geschichten über die Entstehung der Schweiz unwahrscheinlicher, als dass in Morgarten ein bewaffneter Konflikt stattgefunden hat“, verweist der Historiker etwa auf den legendären Freiheitskämpfer Wilhelm Tell. Auch die Vorstellung, dass es sich um den ersten „Befreiungskampf“ der Eidgenossen gehandelt hat, nennt er zweifelhaft: „Die Vorstellung, dass die Habsburger eine aktive Expansionspolitik in die Innerschweiz betrieben haben, halte ich für fragwürdig.“

Streit zwischen Talschaft und Kloster

Dass Morgarten dennoch so beliebt ist, liegt wohl an der Mythenbildung des 19. Jahrhunderts, doch lässt sich auch hier ein Abklingen beobachten: Kannte einst jedes Schuldkind die Schlacht, ist sie heute zu einem lokalen Ereignis verkommen. Zwar findet alljährlich das Morgartenschießen statt, abseits dessen wird das Ereignis aber kaum thematisiert. Ausnahme sind nationalkonservative Kreise: „Morgarten ist nach rechts abgerutscht“, sagt Teuscher. Es würde versucht, die Kämpfe „mit EU- und ausländerfeindlichen Ideen“ in Sinne eines Abwehrkampfes zu belegen und die Geburtsstunde der Eidgenossenschaft dorthin zu verbiegen. Doch, so der Historiker: „Mit der Geschichte der Schweiz hat die Morgartenschlacht so gut wie gar nichts zu tun. Die Schweiz ist 1848 entstanden, und die Alte Eidgenossenschaft, die nur bedingt Vorläuferin der modernen Schweiz war, im Lauf des 15. Jahrhunderts.“

Was aber geschah vor 700 Jahren, das die Schweizer veranlasst, zum Jubiläum Aufwändiges aus dem Boden zu stampfen? Es gibt vier Theorien, die als Ursachen des Konfliktes genannt werden: der „Schwyzer Freiheitsdrang“, die „habsburgischen Hausmachtsansprüche“, der „Marchenstreit“ und der „deutsche Thronstreit von 1314–1322“. Als am plausibelsten gilt unter Historikern Nummer drei. Demnach schwoll seit dem 13. Jahrhundert ein Grenz- und Nutzungskonflikt zwischen der Talschaft Schwyz und dem Kloster Einsiedeln an, das unter der Schirmherrschaft des Habsburger Reiches stand.

Der Hintergrund: Das Kloster hatte auf die Großviehhaltung umgestellt, um im Handel mit aufstrebenden Städten des Mittellandes und Oberitaliens mithalten zu können. Dazu wurden eigene „Schweighöfe“ errichtet und klösterlichen Pächtern übergeben. Letztere scherten sich jedoch wenig um die traditionellen Weideformen der übrigen Viehhalter im Einsiedler Einflussbereich – und der benachbarten Schwyzer Bauern. Es folgten Unruhen, die am 6. Jänner 1314 in einem Überfall auf das Kloster gipfelten. Die Bauern plünderten und verschleppten einzelne Mönche. Dem Abt jedoch gelang die Flucht in das Statthalteramt Pfäffikon, von wo er den Bischof und den Schirmherrn alarmieren konnte.

Ein Habsburger auf Bergwanderung?

Die Schlacht am Morgarten fand knapp zwei Jahre später statt. Die ältere Geschichtsschreibung geht von einem Vergeltungsversuch aus, die neuere präferiert die Variante, wonach Herzog Leopold von Habsburg seine Macht gegenüber den aufständischen Bauern demonstrieren wollte. Als gesichert gilt lediglich, dass der Herzog im Herbst 1315 im habsburgischen Stammland im Aargau in den Städten Baden, Brugg und Aarau ein Heer zusammenrief. Um wie viele Männer es sich handelte, ist nicht überliefert. „Es fehlen Anhaltspunkte, aber ich gehe davon aus, dass wir es hier nicht mit einem habsburgischen Herzog auf einsamer Bergwanderung zu tun haben“, sagt Teuscher.

Der Verlauf der Schlacht gehört indes ins Reich der Spekulation: Einer Legende zufolge wurde der Plan Leopolds durch seinen Ritter Heinrich von Hünenberg verraten, der einen Pfeil mit der Botschaft „Hütet euch am Morgarten am Tage vor St. Othmar“ zu den Schwyzern schoss. Andere vermuten, dass die Schwyzer durch Kundschafter vom Vorstoß Leopolds gegen den Morgarten erfuhren und dort ihre Kämpfer sammelten. Wieder andere orten einen geschickt geplanten Hinterhalt seitens der Schwyzer. „Berg und Bergmenschen werden über die Freiheitsräuber herfallen wie ein zürnendes Ungewitter“, liest man im Band des Schweizerischen Jugendschriftenwerks. Der Chronist Konrad Justinger nennt als Grund der deutlichen Niederlage der Habsburger die „furchtbare Mordwaffe“ Hellebarde (eine Hieb- und Stichwaffe, die die Schweizer Garde noch heute als Zeremonialwaffe trägt) – allerdings verfasste er seinen Text erst hundert Jahre nach dem ominösen Aufeinandertreffen.

Während der Ausgang der Schlacht unumstritten ist, sind es die Zahlen der Toten nicht: Rund 2000 Habsburger sollen getötet worden sein, dagegen nur zwölf Schwyzer. Doch gehorchten mittelalterliche Zahlenangaben seit jeher stärker Grundsätzen der literarischen Wirkung, als der modernen Statistik. „Die Wissenschaft muss ehrlich sagen: Wir haben keine Ahnung, die Quellenlage ist zu dünn“, sagt Teuscher. Ausrechnen könne man sich aber, woher die habsburgischen Krieger stammten: „Die kamen aus dem Aargau, aus Zürich aus dem Thurgau – also mehrheitlich aus dem Raum der heutigen Schweiz“, sagt der Historiker und resümiert: „Wir Schweizer haben uns am Morgarten selber besiegt.“

Als Folge der Schlacht wurde am 9. Dezember 1315 ein lokales Bündnis zwischen den „lantlüte und eitgenoze von Ure, von Swits und von Underwalden“ geschlossen – der Bund von Brunnen.

Ein Fund nach 700 Jahren

Trotz der vielen Unsicherheiten bildet Morgarten bis heute einen fixen Bestandteil des schweizerischen Selbstverständnisses. Das zeigen auch die Bemühungen des Schweizer Fernsehens, das im Sommer – kurz vor Beginn der Feierlichkeiten – die angebliche Kampfgegend mit Metalldetektoren absuchte, um doch einen eindeutigen Beleg für die Kämpfe zutage zu fördern. Zum Vorschein kamen Patronen des Morgartenschießens sowie einige Dolche und Münzen. „Es war kein typischer Kampffund“, gibt Teuscher zu bedenken, „aber mit etwas gutem Willen kann man ihn mit der Schlacht in Verbindung bringen.“

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