Lesetraining auf Türkisch und für Mathematik

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Einen Vormittag pro Woche üben in einer Wiener Volksschule alle Schüler ausschließlich eines: Lesen. Auf Deutsch, Türkisch, BKS - und noch ein paar anderen Sprachen.

„Abnehmen“ steht auf der Karte, die Pamela Mandl hochhält. „Kommt da etwas dazu oder kommt da etwas weg?“, fragt sie die zehn Zweitklässler, die in der 2b sitzen. Ein bisschen zaghaft strecken die Schüler ihrerseits Kärtchen in die Luft und zeigen der Lehrerin entweder ein Plus oder ein Minus. „Warum zeigst du mir da ein Plus, Milan?“, fragt Mandl. „Abnehmen: Bedeutet das, dass etwas mehr oder weniger wird?“ Einige Schüler drehen ihre Kärtchen um. „Gut“, sagt Mandl. „Wer mir ein Minus gezeigt hat, darf in seiner Liste ein Stricherl machen.“ Spielerisch sollen Schüler so Begriffe lernen, die sie für Mathematikaufgaben brauchen.

Es ist nur eines von 18 unterschiedlichen Lesemodulen, die es an diesem Dienstagvormittag in der Volksschule in der Selzergasse im 15. Wiener Gemeindebezirk gibt. Einmal pro Woche lösen sich dort alle Klassen auf, und die Kinder üben zwei Stunden lang lesen. Da geht es um Rechenaufgaben und Stundenpläne, um Reime, Märchen und Bibelgeschichten, um Sachtexte und Lesetechnik – größtenteils auf Deutsch, aber auch in sechs anderen Sprachen, von Albanisch bis Türkisch. Für das mehrsprachige Leseatelier hat das Bildungsressort der Schule jüngst den Österreichischen Schulpreis verliehen.

Zwei Stockwerke unter der 2b lesen Violeta Bosnjakovic und eine Kollegin mit rund 20 Schülern auf Bosnisch/Kroatisch/Serbisch „Rotkäppchen“ – „Crvenkapica“. „Kako se kaže 'vuk' na njemačkom?“, fragt die Lehrerin: Wie heißt dieses Wort auf Deutsch? „Wolf“, rufen einige Kinder. Andere sind sich nicht ganz so sicher. Woanders lösen Zweitklässler ein Quiz über Schulfächer („In diesem Fach lernst du eine andere Sprache. Diese Sprache spricht man in den USA, in Australien und in Großbritannien“). Später üben die Kinder, neben Stundenplänen auch andere Pläne zu lesen, Fahrpläne zum Beispiel. Und in wieder einem anderen Raum haben drei Schüler mit der Dari-Lehrerin die ersten Buchstaben des Alphabets gelernt: Alif, Ba und Nun.

„Einmal pro Woche werden im Leseatelier gezielt die Teilfertigkeiten des Lesens geschult“, sagt Direktorin Susanne Göd, die sich das Projekt im Zuge einer Leadership-Ausbildung von Uni Innsbruck und dem Bildungsministerium ausgedacht hat: Kinder, die nur Deutsch sprechen oder für die die Schule keine Muttersprachenlehrer hat, lesen in einem von zwölf verschiedenen Modulen zwei Stunden lang auf Deutsch. Die anderen lesen je eine Stunde davon in der Muttersprache.

„Uns ist wichtig, dass die Kinder auch in ihren Muttersprachen besser und sinnerfassend lesen lernen“, sagt Susanne Göd. Einerseits aus ganz praktischen Gründen: weil der Deutscherwerb bei gefestigter Muttersprache leichter sei. („Natürlich ist das Deutschlernen das Zentrale.“) Andererseits auch, weil das das Selbstbewusstsein der Kinder stärkt – fast alle der 190 Schüler haben ausländische Wurzeln. Auf den Beweis für Letzteres muss man nicht lange warten. Die Kinder sind begeistert, als Göd sich in der Türkischklasse, in der mit Wörtern auf bunten Sprechblasen Personenbeschreibungen geübt werden, an einigen türkischen Begriffen versucht. „Annemin adı: Das heißt ,Mama‘, oder?“ – „Nein, das heißt ,der Name meiner Mama‘!“, rufen die Kinder.

Eltern legen Wert auf Deutschlernen

„Die Kinder können unterschiedlich gut Türkisch“, sagt Lehrerin Yasemin Ceylan. „Manche fließend und mit gutem Wortschatz. Andere dagegen sprechen nur in Ein-Wort-Sätzen.“ Wie gut die Kinder ihre Muttersprache sprechen, hängt auch vom Elternhaus ab. „Vielen Eltern ist nicht bewusst, dass die Muttersprache auch wichtig ist“, sagt Göd. „Daher sind sie oft erstaunt, dass wir dem so viel Platz einräumen.“ Und sie räumt auch gleich mit einem oft strapazierten Vorurteil auf: „Auch, wenn manche selbst kaum Deutsch sprechen, ist es für sie das Allerwichtigste, dass ihr Kind gut Deutsch lernt. Doch dafür müssen sie Kompetenzen in ihrer Erstsprache haben.“

Als es nach einer Stunde läutet, laufen Erstklässler etwas verloren in der Schule herum, bis sie die nächste richtige Gruppe finden. Und weiter geht es – in jedem Raum des Schulhauses: Im Lehrerzimmer sitzt die Albanischlehrerin, auf dem Gang haben die Schüler der Religionslehrerin „Arche“ und „fromm“ in ihre Liste neuer Wörter eingetragen. Im Hort korrigiert die Rumänischlehrerin die Aussprache ihrer Schüler. Und in der 2a erklärt Angela ihrer Lehrerin Ingrid Karner gerade, warum das Lesen so wichtig ist. „Wenn dir jemand ein Papier zum Unterschreiben gibt, musst du ja wissen, was da steht.“

MUSTERSCHÜLER

Mit der neuen Serie „Musterschüler“ will „Die Presse“ den Blick dorthin lenken, wo es schon jetzt gut funktioniert. Denn auch wenn Veränderungen im Bildungssystem dringend notwendig sind, gibt es zahlreiche Schulen, Kindergärten und Bildungsinitiativen, Pädagoginnen und Pädagogen, die auch unter schwierigen Bedingungen viel erreichen. Einige davon sollen hier vorgestellt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.11.2015)

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