Europa muss jetzt einen kühlen Kopf bewahren

Ziel der Pariser Terroristen war es, den Westen zu blindwütigen Reaktionen zu verleiten und vermutlich auch, die EU in der Flüchtlingsfrage weiter zu polarisieren. Diesen Gefallen sollten wir ihnen nicht tun. Leitartikel von CHRISTIAN ULTSCH

Europa muss sich auf eine harte und lange Bewährungsprobe einstellen, denn es ist davon auszugehen, dass die Anschläge von Paris nur der Anfang einer Schreckensserie sind, die den Kontinent demnächst heimsuchen könnte. Auch Moskau, London, Berlin oder Wien. Der Terror des Islamischen Staats hat eine neue Dimension erreicht. Das Krebsgeschwür ist mutiert. Es hat in den vergangenen Monaten Zellen ausgebildet, die zu großen und synchronisierten Attentaten fähig sind. Der IS kann jetzt auch, was al-Qaida konnte. Der 13. November ist der 11. September des IS. Das wird den Mörderbanden im verrückten Paralleluniversum der Jihadisten Ansehen und neuen Zulauf bringen.

Ob und wie das Pariser Blutbad die Welt verändert, hängt von der Reaktion darauf ab. Bin Ladens al-Qaida war es mit den Angriffen auf das World Trade Center 2001 gelungen, die USA in einen Kriegin Afghanistan und zwei Jahre später in den irakischen Sumpf zu ziehen. Das mehrte das Chaos und nährte den Terror. Ziel von Terroristen ist es seit jeher, den Gegner zu blindwütiger Überreaktion zu verleiten und so eine Eskalation herbeizuführen. Radikale Islamisten haben dieser alten Logik asymmetrischer Kriegsführung noch einen apokalyptischen Überbau verpasst: Sie sehnen den Endkampf gegen die „Ungläubigen“ herbei.

Den Mördern von Paris ging es darum, wahllos möglichst viele Menschen zu töten. Sie schlugen in kalter, barbarischer Manier dort zu, wo Bürger sich gern in Gesellschaft entspannen: in Cafés, Restaurants, in einer Konzerthalle, bei einem Fußball-Ländermatch. 129 Tote. Nicht auszudenken, hätte es einer der Attentäter in das Stadion geschafft. Der französische Präsident, François Hollande, sprach in einer Rede an die Nation von einem Kriegsakt, verhängte den Ausnahmezustand, ließ die Grenzen des Landes schließen und kündigte einen „erbarmungslosen Kampf“ gegen Jihadisten im In- und Ausland an. Schon wird spekuliert, ob die Nato, wie nach dem 11. September 2001, den Bündnisfall ausruft. Frankreich, die USA und andere Alliierte fliegen seit Längerem Luftangriffe gegen den IS in Syrien und im Irak. Folgt nun als Antwort auf den Terror in Paris eine Bodenoffensive?

Politiker und Militärs müssen einen kühlen Kopf bewahren und die Folgen ihres Handelns abschätzen. Einerseits liegt die Notwendigkeit, den Terroristen Rückzugs- und Ausbildungsräume in Syrien und im Irak zu entziehen, klarer denn je auf der Hand. Und auch die öffentliche Unterstützung für eine Militärintervention gegen den IS wäre groß wie nie. Doch wenn ein solcher Feldzug nicht richtig durchdacht ist, wird er die Extremisten und die blutige Anarchie in der Region noch zusätzlich befeuern.

Die Instrumentalisierer. Akteure aller Seiten werden versuchen, die Pariser Tragödie zu instrumentalisieren. Russland wird für eine Anti-Terror-Koalition werben, um so Syriens Diktator Assad weiter zu stützen. Und Frankreichs Präsident wird sich bemühen, Handlungsfähigkeit zu signalisieren. Diesen Bedarf hätten auch viele seiner EU-Kollegen, die seit Monaten ohnmächtig den Flüchtlingsströmen zuschauen. Auch da könnten die Pariser Anschläge eine Zäsur markieren. Wenn sich bewahrheitet, dass einer der Terroristen über Griechenland mit einem syrischen Pass einreiste, wird das die Flüchtlingsdebatte für immer verändern. Auch gütigste Menschenfreunde werden dann kaum noch Argumente für völlig offene und unkontrollierte Tore nach Europa finden.

Bei all den Fragen gilt es, das Feld nicht Hasspredigern zu überlassen, sondern besonnen das richtige Maß zu finden. Wer blind in die Kriegsfalle tappt, wer gegen Flüchtlinge hetzt, wer Werte wie Hilfsbereitschaft oder Toleranz infrage stellt, wer die Freiheit und den europäischen Lebensstil auf dem Altar der Sicherheit opfert, wer polarisiert, spielt den Terroristen in die Hände.

In diesem Kampf gegen die Feinde der Zivilisation braucht Europa Nerven, Verstand und einen langen Atem.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2015)

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