Reform: „Mutlos“ und „Nordkorea“: Gesamtschule polarisiert

PR�SENTATION ERGEBNISSE DER BILDUNGSREFORM-ARBEITSGRUPPE: BM HEINISCH-HOSEK / STS MAHRER
PR�SENTATION ERGEBNISSE DER BILDUNGSREFORM-ARBEITSGRUPPE: BM HEINISCH-HOSEK / STS MAHRER(c) APA/HELMUT FOHRINGER
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Modellregionen werden im kleinen Stil möglich. Die genaue Ausgestaltung der Versuche ist aber unklar.

Wien. Es herrschte Verwirrung bei der Präsentation der Bildungsreform: Sind die geplanten Modellregionen nun ein Schritt in Richtung Gesamtschule – oder doch nicht? Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek meinte: Ja. „Wir werden es schaffen, die gemeinsame Schule der Sechs- bis 14-Jährigen Wirklichkeit werden zu lassen“, sagte sie. Ihr ÖVP-Gegenüber, Staatssekretär Harald Mahrer, sieht das wohl anders. „Es war uns wichtig, dass wir am Gymnasium festhalten“, sagte er bei der gemeinsamen Präsentation der Bildungsreform. Mahrer sieht einen „Wettbewerb der Ideen“, über dessen Ausgang in zehn Jahren entschieden werden soll, wenn die Regionen wie geplant wissenschaftlich evaluiert werden.

Wie die Modellregionen, die die Bundesländer einführen dürfen sollen, tatsächlich aussehen werden, konnte jedenfalls keiner der Anwesenden auf Anhieb schlüssig erklären. Was daran liegen könnte, dass auch dieses Thema erst in dem fast zwölfstündigen Verhandlungsmarathon in der Nacht auf gestern fixiert wurde. Es bleibt vorerst wohl Interpretationssache. Und wird noch zu Diskussionen führen.

Großflächige Schulversuche, wie man sie sich in Vorarlberg und in Wien wünschte, wird es jedenfalls nicht geben. Auch nicht mehr Geld. Bei jeder Modellregion dürfen maximal 15 Prozent eines Schultyps sowie 15 Prozent aller Schüler mitmachen. Eine Unstimmigkeit: Eine Gesamtschule müsste eigentlich der einzig existente Schultyp für die Zehn- bis 14-Jährigen sein. Dennoch können auch Versuche ohne Gymnasien als Modellregion betitelt werden. Ein heikler Punkt: Das Bundesland soll diese Modellregionen – Mahrer spricht lieber von Schulclustern – offenbar verordnen können. „Wenn Eltern ihr Kind nicht in eine solche Schule schicken wollen, müssen sie ausweichen“, sagt die Ministerin. Natürlich werde man aber versuchen, Lehrer und Eltern an Bord zu holen.

Der oberste AHS-Lehrervertreter, Eckehard Quin, ist jedenfalls empört: Er fürchtet, dass es dann „keine Volksschulen, keine Hauptschulen, keine Neuen Mittelschulen, keine Gymnasien und keine Sonderschulen mehr gibt, sondern ausschließlich Eintopfschulen“. Da das „niemals die Zustimmung der betroffenen Eltern, Schüler und Lehrer gefunden hätte, führt die Regierung Schuldiktatur à la Nordkorea ein“, sagt Quin. Auch der oberste Elternvertreter, Theodor Saverschel, übt heftige Kritik: „Wenn es stimmt, dass die Schulen gar nicht mehr gefragt werden, ist das ja ein Wahnsinn“, sagt er. „Das ist ein Zeichen reiner Verzweiflung. Weil keiner zustimmen würde, versuchen sie, mit der Brechstange reinzugehen.“

Kritik aus Vorarlberg, Wien

Die Kritik aus Vorarlberg und Wien – die beide gern das gesamte Bundesland zur Gesamtschule gemacht hätten – geht in eine andere Richtung. „Das ist ein Wermutstropfen“, sagt Vorarlbergs Bildungslandesrätin, Bernadette Mennel (ÖVP). Das Reformpapier sei zwar ein erster Schritt für die Weiterentwicklung der Schule der Zehn- bis 14-Jährigen. „Ich möchte aber nicht verhehlen, dass ich mir von den Verhandlern mehr Mut erwartet hätte.“ Der Wiener Bürgermeister, Michael Häupl (SPÖ), der die Reform mitverhandelte, gab zur Gesamtschule keinen Kommentar ab. „Es ist weniger als gewünscht, aber der richtige Weg“, sagte der designierte Wiener Stadtschulratspräsident, Jürgen Czernohorszky. Die Bundes-Grünen sprechen von einer „Knebelung der Bundesländer“. Die 15-Prozent-Grenze sei viel zu niedrig.

REAKTIONEN

FPÖ. „Offenbar sind SPÖ und ÖVP in Hektik ausgebrochen und haben, nur um den Abgabetermin einzuhalten, ein Papier aus Absichtserklärungen und Alibimaßnahmen zusammengestellt“, kritisierte FPÖ-Bildungssprecher Walter Rosenkranz. So sei etwa die Verwaltung „nach wie vor eine unglückselige Gemengelage an verschränkten Bund-Länder-Kompetenzen“.

Grüne. „Völlig unverständlich“ ist für Grünen-Chefin Eva Glawischnig „die Knebelung“ Wiens und Vorarlbergs bei der Modellregion zur gemeinsamen Schule aufgrund der Teilnahme-Obergrenze von 15 Prozent der Schulen bzw. Schüler eines Schultyps. Positive Ansätze sieht sie bei der Schulautonomie.

Neos. Parteichef Matthias Strolz sprach von einem „typisch österreichischen Kompromiss der Mutlosigkeit“. Die Regierung habe es „wieder nicht geschafft, sich aus dem Würgegriff der Landeskaiser zu befreien“.

Team Stronach. Die Landeshauptleute, so Klubobmann Robert Lugar, hätten über die Bildungsdirektionen „endgültig die totale Kontrolle über die Bildung erhalten“.

Industrie. Mit den Vorschlägen für mehr Autonomie, dem zweiten verpflichtenden Kindergartenjahr und dem Bildungsinnovationspaket seien wichtige Teilerfolge erzielt worden, sagte der Präsident der Industriellenvereinigung, Georg Kapsch. „Vertan wurde jedoch die Chance eines einheitlichen Bundesrahmengesetzes für verbindliche Standards.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2015)

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