Al-Baghdadi: Vom unscheinbaren Koranstudenten zum grimmigen Kalifen

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Abu Bakr al-Baghdadi, Kopf des IS, radikalisierte sich während der US-Invasion im Irak.

Jahrelang war er ein Phantom. Seine Anhänger nannten ihn den „unsichtbaren Scheich“, bis Abu Bakr al-Baghdadi im Sommer 2014 nach der Eroberung von Mossul in der prächtigen al-Nuri-Moschee auftauchte, um in der Freitagspredigt das Islamische Kalifat auszurufen. Ganz in Schwarz schwor er Vergeltung für das Unrecht an den Muslimen. „Bei Allah, wir werden uns rächen, selbst wenn es eine Weile braucht.“

Geboren wurde Baghdadi, der mit bürgerlichem Namen Ibrahim al-Badri heißt, 1971 in Samarra, das am südlichen Rand des sunnitischen Dreiecks im Irak liegt. Seine Familie war nicht wohlhabend, sein Vater gab Religionsunterricht in der lokalen Moschee. Sohn Ibrahim war schüchtern und introvertiert. Nur wenn er koranische Suren rezitierte, wurde seine Stimme voll und kräftig.

Schon damals tadelte er alle, die in seinen Augen gegen die frommen Regeln verstießen. Einer der Nachbarn erinnerte sich, wie Baghdadi einmal völlig aus dem Häuschen geriert, als er auf einer Hochzeit Frauen und Männer zusammen tanzen sah. Wegen seiner mittelmäßigen Maturanoten bekam der junge Salafist an der Universität Bagdad keinen Studienplatz in Jus und schrieb sich im Fach Koranstudien ein. 1999 schloss er das Studium mit dem Magistertitel in seiner Lieblingsdisziplin, der Koranrezitation, ab.

Nachrichten über sein Privatleben sind rar. Baghdadi soll zwei Frauen und sechs Kinder haben. Seine erste Frau Asma ist eine Cousine. Heute ist der 44-Jährige eine mächtige Erscheinung mit grimmigem Blick und kräftigen Augenbrauen. Sein schwarzer Turban weist ihn als direkten Nachfahren des Propheten Mohammed aus – eine Tatsache, auf die sein Clan besonders stolz ist. Als Führer der mächtigsten Terrororganisation auf dem Globus hat er die Macht, jeden in seinem Herrschaftsgebiet zu köpfen, zu kreuzigen oder steinigen zu lassen, der die Vorschriften des Islam nicht hundertprozentig befolgt. Seine Anhänger nennen ihn ehrfürchtig „Befehlshaber der Gläubigen“, ein Ehrentitel des islamischen Kalifen, der bis zum Ende des Osmanischen Reiches das geistliche und weltliche Oberhaupt aller Muslime war.

Radikalisiert wurde al-Baghdadi durch die US-Invasion in den Irak. 2004 nahmen US-Soldaten den Islamgelehrten in Fallujah fest, als er einen Freund besuchte, der bei den Besatzern auf der Fahndungsliste stand. Zehn Monate lang blieb er im Lager Bucca im Südirak. 24.000 Iraker waren hier eingesperrt – radikale Prediger, entlassene Soldaten und Geheimdienstler wohnten Zelle an Zelle. Viele aus der Führung des Islamischen Staates lernten sich in diesem Hochsicherheitskomplex kennen.

Spitznamen „Maradona“

„Baghdadi war ein sehr ruhiger Mensch“, erinnerte sich einer der Mitinsassen. „Aber er hatte Charisma.“ Bald schon leitete der Neuling das Freitagsgebet und gab Religionsunterricht. Sein brillantes Fußballspiel brachte ihm den Spitznamen „Maradona“ ein. „Bucca war wie eine Fabrik. Hier wurden wir geformt, hier entstand unsere Ideologie“, sagte ein Mitinsasse.

Als Baghdadi 2004 wieder frei kam, nahm er Kontakt zu al-Qaida auf, die ihn nach Damaskus schickte. Von dort aus begann er, Jihadisten über die Grenze in den Irak zu schleusen. Zurück in seiner Heimat wurde er Chef der Religionswächter, ließ Alkoholtrinker auspeitschen, Dieben die Hand abhacken und Gotteslästerer exekutieren.

2010 wurde Baghdadi Chef der irakischen al-Qaida-Filiale. Bereits ein Jahr später schickte er erste Kommandos ins benachbarte Syrien. Nach dem Zerwürfnis mit der al-Qaida 2014 begann der Aufstieg Baghdadis und seiner Kämpfer.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2015)

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