Minsk II. Im Donbass kam es zuletzt wieder häufiger zu Gefechten. Die Konfliktlösung steht noch am Anfang.
Kiew/Simferopol/Wien. Die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sind alarmiert: Im Donbass kommt es seit Abhaltung der ukrainischen Lokalwahlen Ende Oktober wieder vermehrt zu Gefechten an der Frontlinie. Die Beobachter sind besorgt, dass die seit Anfang September geltende Waffenruhe in sich zusammenbrechen könnte. Wobei Botschafter Martin Sajdik, der für die OSZE den Verhandlungsprozess in Minsk moderiert, im Gespräch mit der „Presse“ darauf hinweist, dass „die Art und Qualität der Gefechte eine andere“ als früher seien. Auch aus den Berichten der Monitoring-Mission vor Ort geht hervor, dass derzeit vor allem leichte Infanteriewaffen und Panzerfäuste verwendet werden.
Grundlage des Friedensprozesses ist dass Abkommen von Minsk, das im Februar 2015 von Vertretern der Ukraine, Russlands und der Separatisten unterzeichnet wurde. Das Papier umfasst 13 Punkte und ist recht komplex. Die Punkte sind auch eine Checkliste für die EU bei der Frage der Aufrechterhaltung oder Abschaffung der gegen Moskau verhängten Sanktionen.
Laut Plan sollte der Minsk-Prozess bis Jahresende abgeschlossen sein, doch das ist mittlerweile unrealistisch. Die Verhandlungen werden wohl im nächsten Jahr weitergehen.
Durchwachsene Bilanz
Die Bilanz der Umsetzung ist durchwachsen. Von beiden Seiten eingehalten wurde (bisher) die Waffenruhe. Auch haben die Konfliktpartner die schweren Waffen eigenen Angaben zufolge abgezogen. Allein: Die Kontrolle bleibt schwierig. OSZE-Beobachtern wird der Zugang zu Waffenlagern verwehrt. Trotz des offiziell beendeten Abzugs von Artillerie und Raketensystemen gibt es nach wie vor eine Dunkelziffer schwerer Waffen im Konfliktgebiet. OSZE-Diplomat Sajdik hat zudem beobachtet, dass die Kämpfe vor allem „vor, während und nach“ den Minsker Gesprächen stattfinden: interpretierbar als Signale von Gegnern des Friedensprozesses auf beiden Seiten. Tatsächlich harren vor allem die politischen Punkte im Minsk-Abkommen der Umsetzung. Ein neues Wahlgesetz, die konkrete Ausgestaltung des Sonderstatus für den Donbass sowie das Amnestiegesetz bergen immensen innenpolitischen Sprengstoff für Kiew. Während Kiew stärker unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft steht, konkrete Forderungen zu erfüllen, haben Russland und die Separatisten wichtige Punkte noch nicht erfüllt: Der Abzug ihrer bewaffneten Verbände aus der Ostukraine und die Kontrolle der Grenzgebiete durch ukrainische Beamte wirken aus heutiger Sicht illusorisch. Insider berichten zudem, dass die Separatisten mit immer neuen Forderungen den Friedensprozess gefährden würden.
Regierung überlässt Aktivisten das Feld
Der Donbass ist nicht der einzige internationale Zankapfel der Ukraine. Die ersten EU-Sanktionen wurden nach der russischen Annexion der Krim erlassen. Ein Sabotageakt und seine dramatischen Folgen haben die Krim nun in die Medien zurückgebombt.
Die seit September von tatarischen Aktivisten organisierte Transport-Blockade, bei der sie zweifelhafte Unterstützung aus dem Pool des Rechten Sektors erhielten, und mehr noch die gewaltsame Unterbrechung der Stromversorgung von vergangener Woche, wird in der Ukraine kontrovers diskutiert: Nationalisten und patriotisch Gesinnte unterstützen sie. Sie werfen dem Staat und bestimmten Businessmännern Geschäftemacherei mit den russischen „Okkupanten“ vor. Andere Stimmen halten weder die Blockade noch die Sachbeschädigung für sinnvoll.
Noch problematischer ist, dass Kiew das (Ver-)Handeln einer Handvoll Aktivisten überlassen hat. Seit Beginn der Blockade hieß die Regierung die Aktion gut. Jetzt, da sogar die Reparaturarbeiten behindert werden, scheint man selbst nicht mehr Herr der Lage zu sein, sondern Spielball. Wie schon bei Schießereien in Transkarpatien im Juli stellen Angehörige des Rechten Sektors das Gewaltmonopol des Staates infrage.
Ist im Fall der Krim eine Blockade von Energie, Waren oder gar Wasser für Kiew ein letztes Druckmittel gegen die Moskau-treuen Krimbehörden, so ist die Lage im Donbass verzwickter. Diplomatische Initiativen wie das Minsker Abkommen und die EU-Sanktionen haben den Konflikt gewissermaßen eingehegt: Heute ist für keine der beiden Seiten ein Gebietsgewinn machbar ohne große Verluste – oder beträchtliche Konsequenzen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26. November 2015)