Parteichef Corbyn lehnt Beteiligung Londons an Luftangriffen ab. Ein Teil der Abgeordneten verweigert ihm die Gefolgschaft.
London. Bevor das britische Unterhaus heute Abend über die Ausdehnung von Luftschlägen gegen die Terrormiliz IS auf syrisches Staatsgebiet entscheiden wird, hat der konservative Premier, David Cameron, bereits eines seiner politischen Ziele erreicht: Nachdem der Chef der oppositionellen Labour Party, Jeremy Corbyn, unter massivem Druck seiner Parlamentsfraktion die Abstimmung freigeben musste, wird mit einer großen Zustimmung zu der Regierungsvorlage gerechnet. Wenngleich Schattenaußenminister Hillary Benn die „Charakterstärke“ seines Parteichefs lobte, ist unübersehbar, dass die Partei unter der neuen Führungsriege tief gespaltet ist.
Corbyn ist lebenslanger Pazifist und lehnt auch die Militärschläge gegen den IS ab. In seiner Position fühlt er sich durch die überwiegende Mehrheit der Partei unterstützt. Er informierte seine Fraktion, dass mehr als 75 Prozent von 1900 E-Mails, die er zu dem Thema erhalten habe, gegen Militärschläge gewesen seien. Unter den Abgeordneten hingegen ist eine große Mehrheit für ein militärisches Eingreifen. Zahlreiche Führungsfunktionäre drohte sogar mit Rücktritt.
Tony Blair und das Kriegstrauma
Sie wollen damit Großbritanniens Entschlossenheit im Kampf gegen den Terrorismus unterstreichen und nach den Anschlägen in Paris internationale Solidarität demonstrieren. Schon heute fliegen Jets der Royal Air Force Einsätze gegen den IS im Irak: „Ich verstehe nicht, warum wir im Irak eingreifen dürfen und in Syrien nicht“, sagt Jonathan Powell, der ehemalige Stabschef von Premierminister Tony Blair.
Der von Blair unterstützte Krieg gegen den Irak 2003 ist ursächlich für das Trauma in der Labour Party verantwortlich. Er selbst hat mittlerweile eingeräumt, dass „Versäumnisse“ nach der Zerschlagung des Regimes von Saddam Hussein der Entstehung von Terrormilizen Auftrieb gegeben hätten. In diese Kerbe schlagen Corbyn und seine Gesinnungsgenossen: „Unsere Interventionen im Nahen Osten haben die Terrorbedrohung in Großbritannien erhöht“, sagt der Labour-Chef.
Allein in den vergangenen Monaten haben die britischen Sicherheitskräfte nach Angaben von Cameron sieben Anschläge verhindert. Zudem gibt es unter den drei Millionen Moslems in Großbritannien eine Gruppe radikaler Fanatiker, die sich dem Heiligen Krieg verschrieben haben. Der berüchtigte IS-Henker, Jihadi John, wuchs im Westen Londons auf und studierte an der University of Westminster, ehe er sich nach Syrien absetzte. Er wurde am 12. November von einer britischen Drohne getötet.
Kluft zwischen Partei und Fraktion
Die Regierung und andere Anhänger von Militärschlägen gegen den IS – neben rund 100 Labour-Abgeordneten wollen auch die Liberaldemokraten mit der Regierung stimmen – leiten daraus den Schluss ab, dass nur durch entschiedenes Eingreifen und die Zerschlagung die Barbarei und Grausamkeit des IS beendet werden kann. Wer sich wie Corbyn im aktuellen Stimmungsklima „nicht glücklich“ über den Schussbefehl gegen Terroristen bei Gefahr in Verzug zeigt, bewegt sich aber rasant ins politische Abseits.
Wenn Labour-Abgeordnete dieser Tage ihren Parteichef als „Mann hoher Prinzipien“ preisen, klingt das bereits so, als würden sie seinen Nachruf formulieren. Tatsächlich hat sich in der Partei unter Corbyn eine tiefe Kluft aufgetan, die Labour als funktionsfähige Opposition fast völlig aus dem Spiel nimmt. Für Cameron ein durchaus willkommener Kollateralschaden. Ein Debakel wie vor zwei Jahren, als ihm bei der Abstimmung über die britische Beteiligung an der Anti-IS-Allianz in Syrien die Gefolgschaft verweigert wurde, muss der Premier diesmal nicht befürchten.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.12.2015)