Der bestdokumentierte aller Widerspruchsgeister

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Den Verehrern und den Wissbegierigen unter den Musikfreunden bleiben nun vor allem CD- und DVD-Aufnahmen, die die Kunst Nikolaus Harnoncourts bewahren.

Welch radikalen Einschnitt in das Musikleben der Entschluss Nikolaus Harnoncourts bedeutet, nicht mehr auftreten zu wollen, wird Musikfreunden wohl erst nach und nach klar werden, wenn sie erkennen, dass die fortwährende Konfrontation mit einem Reibebaum, einem stets widersprechenden Geist, ausbleibt. Das geht weit über die momentane Erschütterung hinaus, die sich für Veranstalter ergibt, etwa das Theater an der Wien, wo im Jänner eine konzertante Aufführung einer frühen Fassung von Beethovens „Fidelio“ angesetzt ist, oder – desaströs – für die ganz auf Harnoncourt ausgerichtete Styriarte, die heuer um einen groß angelegten Beethoven-Zyklus herum arrangiert ist.

Die interpretatorischen Leistungen dieses prägenden Künstlers bleiben dank der digitalen Speicherkapazitäten freilich in einem beinahe lückenlosen Umfang greifbar. Wer die einzigartige Karriere des Nikolaus Harnoncourt Revue passieren lassen möchte, beginnt am besten mit einer Hörprobe der zumindest in einigen Onlineplattformen greifbaren Einspielung der Bachschen „Brandenburgischen Konzerte“ von 1950, bei der noch ein anderer künstlerischer Leiter als Inspirator fungierte. Der 21-jährige Nikolaus Harnoncourt wirkte als Gambist mit.
Am Dirigentenpult stand bei dieser Gelegenheit der Originalklang-Pionier Josef Mertin. Und man sollte aus dieser Aufnahme beispielsweise das von den Gamben geführte, nur für tiefe Streicher registrierte Sechste Konzert gehört haben, um zu ahnen, auf welchem Humus die Klang- und Spielkultur der Eroberergeneration um Harnoncourt gewachsen ist: Die Kargheit und Klarheit, die dem damals herrschenden, hoch romantischen Bach-Bild da entgegengesetzt wird, hat bis heute wenig von ihrem Überrumpelungspotenzial verloren...

Sobald Nikolaus Harnoncourt mit seinem eigenen Ensemble daran ging, Aufnahmen zu machen, sorgte dieser Hang zur Überraschung, zum klanglichen coup de théâtre, immer wieder für fruchtbare Irritation. Und hob ganze Komponistenschulen ans Licht. Der Musiker selbst holte in widrigen kommunistischen Zeiten aus Archiven im mährischen Kremsier Werke des österreichischen Hochbarocks, die heute zum Fixbestand aller Originalklang-Ensembles gehören.

Man muss hören, wie der Concentus Musicus einst die programmatisch-pittoresken Stücke von Fux, Biber oder Schmelzer zum Klingen brachte: Klangtheater, ganz im Sinne jener Klangrede, die Nikolaus Harnoncourt auch als Theoretiker gern beschworen hat; und die er als Dirigent von allen Orchestern einforderte. Die Höhepunkte seiner Karriere sind überdies auch auf DVD dokumentiert: beginnend mit dem legendären Monteverdi-Zyklus (DG) in den üppigen Ponnelle-Inszenierungen aus Zürich bis zur – dank einer singulär-harmonischen Sängerbesetzung – wohl gediegensten der zum Teil heftig umstrittenen Mozart-Produktionen, der „Clemenza di Tito“ von den Salzburger Festspielen (TDK), wo es sogar gelang, eine zeitgenössische Regiearbeit (Martin Kušej) stimmig ins von der Musik dominierte Theater-Ganze einzubinden.

Unbedingt gehört haben muss man die Mitschnitte des ersten der beiden von Harnoncourt dirigierten Neujahrskonzerte (Teldec), das den Sträußen eine klangliche Feinsinnigkeit zurückgab, die sie über die Jahrzehnte der Spielpraxis fast völlig verloren hatten, sowie des Salzburger Festspiel-Eröffnungskonzerts (CMajor/Unitel), in dem Schuberts große C-Dur-Symphonie erklang: Da kommt es zu einer natürlichen Entfaltung der Wiener philharmonischen Spielkultur, die nur in Sternstunden erreicht wird.

Sammler haben im Übrigen längst damit begonnen, die frühen LP-Editionen des Bach-Kantaten-Zyklus zu horten, den Harnoncourt mit Gustav Leonhardt erarbeitet hat. Die Beihefte mit den kompletten Partituren machen die Edition zum Desideratum.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.12.2015)

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