Bildungspsychologin: "Geschlechtsstereotype gibt es ja nicht nur in der Schule"

Bildungspsychologin Christiane Spiel
Bildungspsychologin Christiane Spiel(c) Michaela Bruckberger
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Buben und Mädchen sollen gemeinsam lernen, sagt Bildungspsychologin Christiane Spiel. Der Lernerfolg sei größer, die Schüler seien weniger aggressiv – und es entspreche auch der gesellschaftlichen Realität.

Kann es sinnvoll sein, Mädchen und Buben getrennt zu unterrichten?

Christiane Spiel: Ein „Science“-Artikel hat über viele Studien hinweg analysiert, ob Monoedukation besser ist als gemeinsame Erziehung. Da kommt klar heraus, dass man diese Aussage nicht treffen kann. Es ist auch schwierig, ein gutes Studiendesign zu diesem Thema zu machen. Denn die Eltern, die ihre Töchter in eine monoedukative Schule geben, sind nicht repräsentativ für alle anderen. Das Gleiche gilt auch für die Lehrer an solchen Schulen.

Haben Mädchen und Buben denn unterschiedliche Ansprüche und Fähigkeiten?

Das Stereotyp ist: Knaben sind begabt, aber faul. Und bei Mädchen gilt, dass sie gewisse Fächer nicht so gut können, aber dafür fleißig sind. Dieses Geschlechterbild wird transportiert. Und die Konsequenz? Sowohl Mädchen als auch Buben sind dann tatsächlich so, wie es das Stereotyp vorschreibt.

Und eine Trennung in der Schule würde nicht helfen, diese Stereotype aufzulösen?

Geschlechtsstereotype gibt es ja nicht nur in der Schule. Sie werden über Medien, Eltern, Kindergarten etc. verbreitet. Man darf nicht glauben, man müsste die Kinder nur in der Schule trennen und wäre das Problem los.

In getrennten Klassen fallen ja – Stichwort Pubertät – auch einige Ablenkungen weg. Könnte das nicht ein Vorteil sein?

Nein. In unserer Welt gibt es nun einmal Männer und Frauen, und wir sollten lernen, damit umzugehen.

Aber kann es nicht doch sinnvoll sein, wie es manche fordern, bisweilen unter sich zu sein, etwa beim Sexualkundeunterricht?

Das wäre doch komisch, wenn man für ein Thema, das beide Geschlechter betrifft, Mädchen und Knaben trennt. Man sollte jedoch gut überlegen, wie man solche Themen angeht. Vielleicht wäre ein kurzer getrennter Einstieg sinnvoll. Wichtig ist, dass man sich als Lehrperson der Geschlechtsstereotype bewusst ist und versucht, sie zu vermeiden. Es kann natürlich Extremsituationen geben, in denen eine Trennung notwendig erscheint. Aber in einer normal gemischten Schulklasse sehe ich keinen Grund. Und es gibt auch keinen wissenschaftlichen Beleg dafür.

Man könnte eben leichter über manche Dinge reden.

Wir leben in einer Welt mit Männern und Frauen. Und es ist wichtig zu lernen, wertschätzend miteinander umzugehen. Es gibt eine Studie, die besagt, dass es in monoedukativen Klassen eine höhere Aggressions- und Gewaltrate gibt – weil Buben ihre Aggression herunterfahren, wenn auch Mädchen dabei sind. Abgesehen davon gibt es auch Studien, die zeigen, dass oft Eltern oder Mütter, die eher feministisch sind, ihre Töchter in reine Mädchenklassen schicken wollen – sie aber gleichzeitig ihren Töchtern in den sogenannten traditionellen Bubenfächern weniger zutrauen. Und die Studien zeigen auch, dass die Kinder häufig unabhängig von ihren objektiven Leistungen in der Schule solche Vorurteile von ihren Eltern übernehmen.

Es gibt ja abseits des Geschlechts auch andere Unterscheidungsmerkmale. Kann man die Erfahrungen mit Monoedukation auch auf sogenannte Ausländerklassen umlegen?

Ja. Wenn meine Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss haben und ich zusätzlich aus einem Land mit einer anderen Sprache komme, habe ich ein hohes Risiko, nicht die Standards zu erreichen. Das wird noch höher, wenn in meiner Klasse viele andere Kinder dasselbe Risiko haben. Das sollten wir durch Ghettoklassen nicht noch erhöhen, sondern möglichst durchmischen.

Umgekehrt werden heimische Eltern befürchten, dass das Niveau für ihre Kinder dadurch leiden könnte.

Eltern sehen oft nur potenzielle Nachteile gemischter Klassen und denken nicht an mögliche Vorteile. Aus der Lernpsychologie wissen wir: Einen Stoff kann man am besten, wenn man es schafft, ihn anderen zu erklären – etwa jenen, die sich schwerer tun. Und man lernt schon als Kind, mit Menschen aus anderen Kulturen umzugehen. Das ist eine wichtige Kompetenz für die Zukunft, etwa wenn ich später in einem multinationalen Konzern tätig bin. Wichtig ist jedoch ein möglichst individualisierter Unterricht, sodass jeder Schüler sein eigenes Portfolio hat und es gleichzeitig ein Minimum gibt, das alle können sollten.

Aber wird denn schon an allen Schulen so gearbeitet?

Nicht an allen.

Dann ist es klar, dass es Ängste gibt.

Wir müssen uns mehr die Frage stellen: Was können wir tun, damit die Bildungschancen für alle unabhängig von Geschlecht und Migration verbessert werden? Ich kann als Mutter in die Schule gehen und sagen, ich fände es toll, Lernportfolios einzuführen, die ich schon woanders gesehen habe. Sein Kind in eine andere Schule zu geben ist keine zukunftsorientierte Lösung für die Gesellschaft.

Zurück zum Geschlecht: Viele monoedukative Schulen gibt es heute ohnehin nicht mehr. Das ist offenbar ein Auslaufmodell.

Die Unterschiede innerhalb der Geschlechter sind größer als zwischen den Geschlechtern. Nur ist das Geschlecht ein hervorstechendes Merkmal und durch die Sexualität emotional besetzt, sodass es als dominant gesehen wird. Es geht um das Einzelindividuum mit seinen Stärken, Potenzialen und Schwächen. Das Geschlecht ist nur ein Merkmal von vielen.

Steckbrief

Christiane Spiel (geb. 1951) gilt als Begründerin der Bildungspsychologie. Sie studierte Mathematik, Geschichte und Psychologie an der Universität Wien, forschte und unterrichtete in Berlin und Graz. Seit dem Jahr 2000 leitet sie den Arbeitsbereich Bildungspsychologie und Evaluation an der Uni Wien.

Zentrale Themen ihrer Arbeit sind lebenslanges Lernen, Gewaltprävention, Integration von Migranten und Geschlechterstereotype.

Buch. „Schule. Lernen fürs Leben?“ von Christiane Spiel und Sonja Bettel, Galila-Verlag, 21,90 Euro


Foto: Michaela Bruckberger

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.12.2015)

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