Die internationalen Brigadisten der Kurden

Kurdish fighters from the People´s Protection Units, who are fighting alongside with the Democratic Forces of Syria, gather around the al-Khatoniyah lake area after they took control of it from Islamic State militants, near al Houl town in Hasaka province
Kurdish fighters from the People´s Protection Units, who are fighting alongside with the Democratic Forces of Syria, gather around the al-Khatoniyah lake area after they took control of it from Islamic State militants, near al Houl town in Hasaka province(c) REUTERS (RODI SAID)
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Die Kurdenmiliz YPG zieht in Rojava hunderte ausländische Freiwillige an. Sie wollen nicht nur gegen die Terrormiliz IS kämpfen, sondern ein neues basisdemokratisches Utopia errichten.

Der Wind bläst feucht und kalt um die Ohren. Um diese Jahreszeit ist es ziemlich ungemütlich in den Bergen im Nordosten Syriens entlang der Grenze zum Irak. Es ist eine verlassene Gegend. Hier, eine gute Fahrstunde vom Grenzübergang Semelka über den Euphrat entfernt, liegt ein Trainingscamp der syrischen Kurdenmiliz YPG. Es ist kein gewöhnliches Ausbildungslager. Denn hier werden nur ausländische Rekruten trainiert. Sie stammen aus Kanada, den USA, Frankreich, Italien und auch aus Deutschland. Alle sind nach Syrien gekommen, um sich am Kampf gegen die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) zu beteiligen. Und: Sie wollen eine Utopie verwirklichen – den Traum von einer idealen, basisdemokratischen und gerechten Gesellschaft.

Die Schranke am Eingang des Camps muss man selbst hochziehen. Hinter den Sandsäcken mit Schießscharten steht kein Wachposten mehr. Denn die Gefahr ist gebannt, seit der Islamische Staat tief in den Süden der Provinz Hasakah zurückgetrieben wurde. Der ehemalige Bauernhof wirkt auf den ersten Blick wenig militärisch. Hühner laufen herum, ein Traktor steht vor dem Haus. „Alles cool hier“, sagt George aus Chicago. „Hier gibt es nicht die strengen Regeln einer Armee und vor allen nicht diesen Dünkel eines höheren Rangs.“

Der 24-Jährige weiß, wovon er spricht. Er war vier Jahre lang Berufssoldat bei den US-Streitkräften. „Ob Ausbilder oder Rekrut, wir alle sind hier mehr oder weniger gleich.“ George ist, wie die meisten Ausländer im Camp, erst vor wenigen Tagen eingetroffen. Zuvor war er im Irak bei den Peschmerga, den Truppen der autonomen Kurdenregion (KRG).

„Das war aber nichts“, meint der ehemalige US-Soldat. Bei der syrischen YPG sei es anders, erklärt er. „Hier geht es zwar auch um den Kampf gegen die Terroristen, aber sie bauen gleichzeitig an einem neuen Gesellschaftsmodell.“ Damit meint der junge Amerikaner die Selbstverwaltung in Rojava. So wird der überwiegend kurdische Teil im Norden Syriens entlang der türkischen Grenze genannt. Anfang letzten Jahres ist Rojava in drei Kantone eingeteilt worden, von denen jeder seine eigene unabhängige Regierung besitzt. Die Organisation ist basisdemokratisch strukturiert, auf Kommunen aufgebaut.

Im Aufenthaltsraum wird Tee serviert. An den Wänden hängen Wimpel und Fahnen der Kurdenmiliz und Gedenkfotos von Kameraden, die gefallen sind. Unter ihnen ist „Märtyrer Kemal“, nach dem das Camp benannt ist, wie Kommandant Freund Sason erklärt. „Freund“ ist die gängige Anrede unter YPG-Kämpfern. Das erinnert an „Genosse“ linker Bewegungen. „Märtyrer Kemal“ hieß im bürgerlichen Leben Konstandinos Erik Scurfield, war 25 Jahre alt und stammte aus Großbritannien. Im März kam er bei einem Gefecht mit dem IS ums Leben.

Personenkult um Öcalan

Einen Monat dauert das Training. Es beschränkt sich nicht auf militärischen Drill. „Wir geben Geschichtsunterricht, Ideologiestunden, die Kultur der Region steht auf dem Plan und, ganz wichtig auch, das Erlernen der kurdischen Sprache“, erklärt Kommandant Sason. Zehn Rekruten seien gerade in der Ausbildung, darunter zwei Frauen. Und fünf weitere Kämpfer würden in den nächsten Tagen von der Front zurückkommen. „Unsere Basis ist auch ein Ort der Erholung für Freunde, die nach dem Kampf eine Pause brauchen.“ Tausende Bewerbungen aus dem Ausland lägen der YPG vor. „Aber wir können nicht alle nehmen, denn nur wer ernsthaft Demokratie will, wird aufgenommen.“ Man müsse auch Sympathie für das kurdische Volk mitbringen und sich für die Revolution einsetzen, betont Sason. „Wir lieben alle Menschen, egal welche Religion und Nationalität sie haben“, sagt er pathetisch. Das lässt einen fast an Flower-Power und John Lennons „Imagine“ denken.

An der Wand des Gemeinschaftsraums darf ein Poster von Abdullah Öcalan nicht fehlen. Er ist der Gründer und Übervater der türkischen Arbeiterpartei PKK, die international als Terrorgruppe verboten ist. Die YPG gilt als ihr Ableger in Syrien. Öcalan führt seit über drei Jahrzehnten die kurdische Organisation an, die altbacken marxistisch orientiert gewesen ist. Erst als Öcalan Bücher von Murray Bookchin, einem amerikanischen Anarchisten in die Hände bekam, verordnete der PKK-Führer den Wandel zum „demokratischen Konföderalismus“. Reichlich spät. Der Personenkult um Öcalan ist im Lager spürbar. Seine Porträts hängen in jedem Büro und fast allen Wohnzimmern. Seine Worte werden heruntergebetet.

Neben Kanadiern und Franzosen sitzt auch ein junger Deutscher am Tisch. Seinen Namen will er, wie viele hier, nicht nennen. Ihr bewaffneter Kampf in Rojava könnte schwerwiegende strafrechtliche Konsequenzen in ihren Heimatländern haben. „Ich komme aus anarchistischen Zirkeln“, sagt der Deutsche, der Michael genannt werden will. Er ist erst seit kurzer Zeit im Camp. „Ich möchte am liebsten im Medienbereich arbeiten. Die Welt soll erfahren, was hier passiert.“

Der 22-Jährige ist begeistert von der Gleichberechtigung der Geschlechter bei den Kurden und vom demokratischen Konföderalismus. „Dieser Feminismus hier ist einmalig, alle Führungsposten sind stets von einem Mann und einer Frau besetzt. Und das dezentralistische System ist die Basis für wahre Demokratie.“ Alle anderen Ausländer sind nicht minder euphorisch.

„Frauen sind hier wichtiger“

Michaels Eltern wissen noch nicht, dass er in Rojava ist. Bei seinem ersten Versuch, Deutschland zu verlassen, hatten ihm Vater und Mutter mit der Schere den Pass in kleine Schnipsel zerschnitten. „Das hat meine Reise um einen Monat verzögert“, sagt Michael schmunzelnd. Offiziell befindet er sich gerade auf einem Besuch in Berlin.

Vor dem Haus geht Hanna Bohman in voller Kampfmontur auf und ab. Das Ex-Model aus Kanada hat in Rojava seine Bestimmung gefunden. „Frauen sind hier viel wichtiger als die Männer.“ Dann posiert sie ohne Maske vor der Kamera. Man merkt, ihren ehemaligen Job hat sie nicht vergessen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.12.2015)

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